In den jüngeren politischen Bewegungen, die sich aus dem Protest gegen die Ungleichverteilung von Reichtum, gegen Austeritätspolitik und gegen die Aushöhlung der Demokratie durch hegemoniale Allianzen von Wirtschaft und Regierungen gebildet haben, gibt es ein verstärktes Bewusstsein für Fragen der Organisation. Einem losen anarchistischen Paradigma verpflichtet (David Graeber spricht von »small-a anarchism«), legen die Bewegungen Wert darauf, in ihren gegenwärtigen Organisationsformen die angestrebte demokratische, freie und egalitäre Gesellschaft vorwegzunehmen. Ihre Aktionen sind daher immer auch ein Experimentieren mit Optionen, sich kollektiv selbst zu organisieren, einschließlich kritischer Revision von Erfolgen und Problemen. So sind Gruppen von »facilitators« entstanden, die sich der organisatorischen Betreuung von Versammlungen, Entscheidungs- und Koordinationsprozessen annehmen. Der Anthropologe und Occupy-Mitinitiator Graeber liefert zudem in seinem Buch »The Democracy Project« Ansatzpunkte für eine theoretische Reflexion der Versammlung im Hinblick auf diese basisdemokratische selbstorganisatorische Praxis.
Dabei zeichnen sich zwei Themenkomplexe ab, die der zweitägige Workshop im Zusammenhang erforschen soll: Zum einen treffen die Versammlungen Entscheidungen ausschließlich im Konsens; Mehrheitsentscheidungen werden abgelehnt, da die Spannungen zwischen Überstimmten und Überstimmenden das Miteinander nachhaltig stören und das Majoritätsvotum eine zu starke Institutionalisierung des kollektiven Prozesses darstellt. Zum anderen treten dadurch Zeitaspekte in den Vordergrund: Wie lange kann oder soll eine Versammlung dauern? Nach welchen Kriterien werden Anteile an der Diskussionszeit vergeben, sodass es möglich ist, andere zu überzeugen, ohne Aufmerksamkeitshierarchien zu etablieren? Welche Rolle spielen Rhythmisierungen des Versammlungsablaufs – durch dramaturgische Strukturierungen und durch spontane Einflüsse zwischen den Versammelten? Wie viel zeit-räumliche Homogenität braucht eine Versammlung; in welchem Maße trägt eine gewisse Zerstreuung, die den idiorrhythmischen Synchronisierungen und Desynchronisierungen Spielraum lässt, zur Konsensbildung oder zum Ausagieren des Dissenses bei?
Im Licht dieser aktuellen Aufmerksamkeit für die Temporalität des Versammelns innerhalb einer neuen politischen Kultur möchten wir in den Workshop Ansätze aus verschiedenen Disziplinen einbeziehen, die Verbindungen zwischen rhythmischer Zeitorganisation und Konsens/Dissens beschreiben. Dabei geht es nicht um einen scharf abgegrenzten Raum, in dem ›Politik‹ stattfindet, sondern um die politische Dimension kollektiven Agierens – gerade auch um eine Verlagerung des Politischen in kulturelle Praktiken: Was können Tanz, Musik, Theater und Performance, Literatur, Raum- und Bildkünste durch ihren Umgang mit Rhythmen beitragen zu einem zeitgenössischen Sinn von/für Konsens und Dissens?
Der Schwerpunkt des Workshops, der voraussichtlich am HAU Berlin stattfinden wird, soll auf gemeinsamen Gesprächen liegen, gern auf der Grundlage von Texten (eigenen oder denen anderer), die vorab vorgeschlagen und herumgeschickt werden. Wer möchte, kann zudem in einem ca. 15-minütigen Beitrag Gedanken einbringen. Die Teilnahme ist aber auch ohne Referate möglich und willkommen. Wir würden uns über Teilnehmer/innen aus dem Schwerpunktprogramm sehr freuen. Reise- und Übernachtungskosten werden vom SPP erstattet.
Bei Interesse oder Fragen bitte an Kai van Eikels (kveikels@zedat.fu-berlin.de) oder Anne Schuh (anne.schuh@fu-berlin.de) wenden.
Kai van Eikels · 21. April 2015, 22:55 Uhr