Ästhetische Eigenzeiten – Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne

DFG – Deutsche Forschungsgemeinschaft, Schwerpunktprogramm 1688

Teilprojekte: 1. Förderphase 2. Förderphase

Inhalt

Wissenschaftliches Programm

  1. Gegenstand
  2. Strukturierung der Thematik in Sektionen
  3. Forschungslage
  4. Ziele
  5. Anlage und beteiligte Disziplinen

Notwendigkeit und Aktualität

Umsetzung und Organisation

  1. Arbeitsprogramm
  2. Nachwuchsförderung
  3. Gleichstellungsmaßnahmen
  4. Internationale Einbindung und Sichtbarkeit
  5. Kooperationen

Zusammenfassung

Wissenschaftliches Programm

1. Gegenstand

Das DFG-Schwerpunktprogramm „Ästhetische Eigenzeiten“ bezieht sich in seinem leitenden Forschungsinteresse auf das Verhältnis von Zeit und Darstellung. Untersucht werden soll, wie Zeitlichkeit in ihrer kulturellen und historischen Vieldeutigkeit und Vielbestimmbarkeit erfahrbar gemacht und reflektiert wird. So grundlegend Zeit in den unterschiedlichsten Konzeptbildungen ist, ob als substantielle Seinsstruktur wie in Newtons Physik, ob als reine Form der sinnlichen Anschauung wie in Kants Erkenntniskritik, so unsichtbar, gewissermassen latent bleibt sie doch selbst, da sie ein der unmittelbaren Anschauung nicht zugängliches Phänomen ist. Erscheinen kann sie nur, insofern sie in eine Form eingeht, sich darstellt und an Gegenständen wahrnehmbar wird. Als materiell sichtbar gemachte, gemessene, dargestellte, ausgedrückte, erkannte, erlebte und bewertete Zeit ist sie stets abhängig von und nur gültig in kulturellen Wahrnehmungs- und Bewertungszusammenhängen. Das Schwerpunktprogramm (SPP) befasst sich also mit einem Phänomen, das notwendigerweise der Präsentation und der Repräsentation bedarf, damit überhaupt ein Wissen von ihm entstehen kann. Zeiterfahrung und Zeitreflexion sind deshalb unhintergehbar an die Darstellungskraft von Ästhetischen Verfahrensweisen, also an das Zusammenspiel von sinnlich perzipierbaren Techniken, Symbolen, Medien und Institutionen gebunden.

Das in der philosophischen Tradition oft thematisierte Problem des Sich-Entziehens der Zeit beim Versuch, sie konkret fassen zu wollen, führt notwendig zu der Einsicht, dass Zeit nicht als universalistische Größe oder als eine abstrakte chronometrische Ordnung begriffen werden kann, nach der Ereignisse individueller und kollektiver Geschichte ablaufen. Vielmehr wird sie im Rahmen des SPP als Komplex unterschiedlicher chronotopischer Vorstellungen verstanden, die sich in Bezug auf die Wahrnehmung und Bewertung der Linearität und Rekursivität von Vorgängen unterscheiden und in ihrer Vielgestaltigkeit Bedeutungszusammenhänge hervorbringen und spezifizieren.

Zeit und Form

Antragsteller und Initiatorinnen bzw. Initiatoren entstammen mehrheitlich Fächern, die sich mit Ästhetischer und kultureller Repräsentation in konkreten kunst-, wissens- und mediengeschichtlichen Konstellationen befassen. Das Projekt geht deshalb von den Kompetenzen dieser Fächer innerhalb des kulturellen Artikulations- und Modellierungszusammenhangs von Zeitlichkeit aus. Zwei Aspekte sind dabei von besonderem Interesse und dann auch vorbildlich für die Erweiterung des Blicks auf andere Bereiche: erstens die Konzentration auf die materielle und individualisierte Manifestation in einzelnen Objekten, Objektgruppen oder Subjekt-Objekt-Verbindungen, zweitens die markante Form-Komponente bei der Konstitution von Artefakten, also von Kunstwerken wie von Architekturen, Designobjekten, Stadtbildern, Ästhetisch geformten Landschaften, kunsthandwerklichen Objekten etc. Das erstgenannte Moment bildet die bevorzugte materielle Untersuchungsperspektive der im SPP zusammengeführten Einzelprojekte und soll es ermöglichen, die kulturelle Moderne in ihren prägnanten Zeitformen neu zu konzeptualisieren. über ihr Wissen bezüglich Formkonstitution und Darstellung wiederum besitzen die mit kulturellen Artefakten befassten Disziplinen eine wichtige Expertise im Hinblick auf die Zeitanalyse, von denen auch andere wissenschaftliche Bereiche profitieren können.

Dieser Ansatz nimmt die Einsicht auf, dass gerade Ästhetische Formverhältnisse immer auch Zeitverhältnisse sind und Form wesentlich eine Organisation von Zeit ist (Seel 2007). In besonderem Maß, aber nicht ausschließlich gilt das für Kunstwerke und Medienprodukte, die Spiel- und Erfahrungsräume für einen spezifischen, intensivierten Vollzug der Zeit eröffnen. Dabei kann Form, jenseits ihrer Qualitäten als sinnlicher Ausdruck zur Erreichung spezifischer rezeptionsästhetischer Ziele, auch verstanden werden als Darstellungsweise, die komprimiert Komplexität wahrnehmbar und vermittelbar macht. Form als artikulierter Inhalt erzeugt eine anders nicht zu erreichende Erkenntnis (Adorno 1989, 218); ihr eignet somit eine spezifische, historisch verfasste und von Zeitstrukturen durchdrungene Semantik (Szondi 1956). Form fungiert deshalb hier als eine nicht-propositionale Komponente des Zeit-Wissens, die auf alltägliche, soziale und wissenschaftliche Herausforderungen reagiert. Sie verdankt sich ihrerseits aber wiederum selbst in ihren Produktionsprozessen komplexen Zeitlichkeitsstrukturen. Damit schließt das SPP auch an die jüngere Diskussion um die Signifikanz von formalästhetischen Strukturen für ideologiekritisch und historisch-kontextualisierend angelegte Ansätze der Literatur- und Kulturwissenschaften an (Levinson 2007; Wolfson/Brown 2007; Palumbo-Liu 2008). Auf der Basis solcher Einsichten in die Bedeutung formgebender Darstellung können bisher dominante Untersuchungsperspektiven und Großtheorien, die eine generelle „Verzeitlichung der Zeit“ bzw. „Historisierung der Zeit“ (Luhmann 1975) in der ‚Sattelzeit‘ des ausgehenden 18. Jahrhunderts festmachen, neu in den Blick genommen werden. Dies gilt im Besonderen für die Arbeiten von R. Koselleck, der im tiefgreifenden Erfahrungswandel der ‚Revolutionszeit‘ im weiteren Sinne einen „Umwandlungsprozeß zur Moderne“ erkannte (Koselleck 1972, XIX) und dabei auf umfassendere Debatten des 17., 18. und frühen 19. Jahrhunderts wie die ‚Querelle des anciens et des modernes‘ und ihre weitverzweigten Folgen verweisen konnte, die in verstärktem Maße ein distinktes Epochenbewusstsein und historistische Sichtweisen erkennen ließen und so die ‚Moderne‘ als spezifisch neue Ära innovativer Zeitwahrnehmung und -reflexion modellierten. (Koselleck 1979; Koselleck 2000) Diese begriffsgeschichtlich-historische und systemtheoretisch- soziologische Zeit- und Verzeitlichungsforschung hat seit den 1980er Jahren große Aufmerksamkeit erlangt, ist teilweise produktiv weitergeführt worden (Joas/Vogt [Hg.] 2010) und in verschiedene geisteswissenschaftliche Fachkulturen expandiert. Diese Makroperspektive auf den Umbruch der Temporalitäten in der ‚Sattelzeit‘ des ausgehenden 18. Jahrhunderts bedarf allerdings sowohl einer konzeptuellen Revision als auch einer neuen materiellen Fundierung, die im SPP geleistet werden soll.

Darstellung

Grundlegend für das Projekt ist ein Darstellungsbegriff, der die sinnliche, aisthetisch wahrnehmbare Artikulation und Formierung durch materiale Konkretisierung und symbolische Aufladung umfasst. Darstellung präfiguriert, produziert und interpretiert das Dargestellte, wobei sie sich selbst markiert und exponiert. Sie lässt folglich ein implizites Wissen über die eigenen Verfahrensweisen mitlaufen und baut dabei in Kunstwerken und Artefakten eine starke materiale Selbstbezüglichkeit auf. Ein solcher Darstellungsbegriff wurde in der Wissenspoetologie (Vogl 1997; Pethes 2004) als grundsätzlicher analytischer Zugang für die Untersuchung aller Wissensbereiche wirkmächtig etabliert, aber noch nicht systematisch für die den Wissensordnungen inhärente und sie strukturierende Zeitdimension fruchtbar gemacht. Der vorliegende Antrag verspricht nun, diesen für alle Disziplinen zentralen Zusammenhang von Darstellung und Zeit-Wissen erstmals systematisch und interdisziplinär zu erforschen.

Methodisch geht das SPP insofern über diskursgeschichtliche und wissenspoetologische Ansätze hinaus, als es die spezifische Darstellungskompetenz der einzelnen Kunstwerke und Artefakte ernst nimmt und ihr genuines Zeit-Wissen in ihrem performativen und repräsentativen Dimensionen begründet sieht. Dieses Vorgehen erfordert die Aufmerksamkeit für die materiale und situative Konkretheit der Gegenstände und ihrer Zeitdimensionen, wie sie in den letzten Jahren etwa die Schreibprozess- und Schreibszene-Forschung in der Literaturwissenschaft (Campe 1991; Grésillon 1996) fruchtbar gemacht hat. Diese Ansätze haben die Aufmerksamkeit von einer Produktions- und Rezeptionsästhetik des ‚Werks‘ auf ‚Verfahren‘ von Schreiben und Zeichnen verschoben, womit die zeitliche Ausdehnung und deren epistemologische und poetologische Relevanz umso nachhaltiger und grundsätzlicher in den Fokus der Analyse gerückt sind. (Hoffmann [Hg.] 2008) Eine weitere Manifestationsweise eines neuen Interesses an der Konstitution der Wirkmacht von Dingen, die ebenfalls die Denkfiguren von Autorschaft und Werk sowie von individueller Handlungsmacht und Subjektivität neu konturiert, gingen von den angloamerikanischen Material Culture Studies aus. In Anlehnung u. a. an M. Heidegger wurden hier epistemische Qualitäten der Dingwelten herausgearbeitet, die für ein Neudenken von Nachträglichkeit, Obsoleszenz und Temporalität relevant sind (Brown 2009, vgl. Latour 2009).

Die kunst- und literaturwissenschaftliche Forschung der letzten Jahre hat das Darstellungsparadigma vor allem als theoretisches Konzept im Zuge der Autonomisierung der Künste untersucht (Menninghaus 1994; Helfer 1996; Mülder-Bach 1998). In wissensgeschichtlichen Zusammenhängen ist dieses Darstellungskonzept hingegen noch kaum fruchtbar gemacht worden, und auch eine breite Reflexion seiner Zeitlichkeit steht noch aus. Dieses Manko wiegt umso schwerer, als sich der Darstellungsaspekt in den nicht-sprachlichen Künsten, in bildender Kunst, Musik und Tanz, besonders deutlich zeigt. Gerade diese Bereiche lassen erkennen, dass die künstlerische Produktionszeit performativ in das Werk eingeht und sich als sinnlich werdender Anteil des Werks im Vollzug manifestiert. Temporalität ist daher als Element der Darstellung nicht nur auf die erklärende Sprachform, sondern ebenso auf die performativen Qualitäten der Künste bezogen. ‚Zeit‘ tritt Ästhetisch in nicht-semantischen Qualitäten hervor, wenn sie Präsenz-Effekte im Unterschied zu Sinn-Effekten (Bohrer 1981/1998; Gumbrecht 2004) erzeugt, etwa als Rhythmus, Takt, Stimmung, Tempo, Dauer, Reim, Atem, Körper-Performanz und bewegtes Bild. Ein zentrales Anliegen der Untersuchungen wird es deshalb sein, in genauen Analysen von einzelnen Artefakten diese nicht-propositionalen Qualitäten zu analysieren.

Von der Einsicht aus, dass begriffslos operierende Künste ihr Verhältnis zu Zeit nicht benennen, sondern es zeigen, ergeben sich interessante Bezüge zu einer praxeologisch ausgerichteten Wissenschaftsgeschichte, die ebenfalls aufzuweisen vermag, wie sich in empirischen und experimentellen Erkenntnisprozessen Zeitdimensionen irreduzibel und eigensinnig in technische und epistemische Dinge einsenken und in dieser Weise ‚darstellen‘ (Rheinberger 2001). Die wissenschaftsgeschichtliche Forschung hat denn auch in den letzten Jahren verdeutlicht, dass die Untersuchung wissenschaftlicher Objekte von der Expertise einer an den Künsten geschulten Methodik profitieren kann. Wissenschaftliche Gegenstände, aber auch alltägliche Dinge haben sich so als hochkomplexe Objekte erwiesen, deren eigensinnige Widerständigkeit ein wichtiger Faktor von Kultur ist, was im Rahmen des Schwerpunkprogramms nun auch systematisch für die Analyse von sich in Darstellungen realisierendem Zeit-Wissen genutzt werden soll. Eine in dieser Weise geschärfte Analyseperspektive wird auch Formen der Reflexion von Temporalität, wie sie die Kunsttheorie, die Wissenschaftstheorie oder die Philosophie hervorgebracht haben, in innovativer Weise untersuchen. Sie wird dabei herausarbeiten, dass diese reflexiven Akte gebunden sind an Momente der darstellenden Inszenierung, die wiederum eigene Temporalitätsstrukturen ins Werk setzen.

Ästhetische Eigenzeiten

Das spezifische Erkenntnisinteresse wird in dem Projekttitel „Ästhetische Eigenzeiten“ angezeigt. Ästhetische Eigenzeiten werden dabei als exponierte und wahrnehmbare Formen komplexer Zeitgestaltung, -modellierung und -reflexion verstanden, wie sie einzelnen Gegenständen bzw. Subjekt-Ding-Konstellationen eigen sind. Dies ist bei Kunstwerken unterschiedlicher medialer und materialer Provenienz in hohem Maße der Fall, trifft aber auch in vergleichbarer Weise für andere Artefakte und Objekte der materiellen Dingkultur zu, bei denen komplexe, auf vielen Ebenen zugleich stattfindende (Selbst‑)Bezüglichkeiten in der Beobachtung zur Wahrnehmung idiosynkratischer Zeitlichkeiten führen. Derart organisierte Gebilde formieren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anders, als sie in der linearen Zeit erscheinen. Es werden so Zeitdimensionen mobilisiert, die zur Funktionszeit quer liegen, umgekehrt können Ästhetische Eigenzeiten aber auch auf als ‚chaotisch‘ erfahrene Zeiterscheinungen ordnend und strukturierend reagieren.

Eigenzeitlich sind diese Objekte deshalb nicht aus sich selbst heraus, vielmehr sind sie eigenzeitlich, weil sie sich, ob affirmativ oder negierend, in eigensinniger Weise auf Prozesse der Synchronisierung beziehen. Die globalen Tendenzen einer Relationierung aller Zeitordnungen sind zugleich die Voraussetzung und der Motor von Eigenzeiten (Nowotny 1989, 13 f.). Denn in dieser Weise werden abweichende Zeitlichkeiten korrelierbar und damit integrierbar, was innerhalb und außerhalb der synchronisierbaren Ordnung neue Formen der Individualisierung und Pluralisierung ermöglicht. Eigenzeiten sind so als Effekte des Normalismus (Link 1998) mit allen dadurch gebotenen Möglichkeiten der Varianz und Denormalisierung zu fassen, wobei die denormalisierenden Elemente als ‚Gegenzeiten‘ verstehbar werden. Sie werden aber auch als Effekte einer neu implementierten globalen Zeitordnung der Moderne wahrnehmbar, als serielle Versatzstücke („Module“) einer transnationalen Imagination, die das politische Denken in globalen Zusammenhängen allererst ermöglicht (Anderson 1991).

Ausrichtung: Ästhetikgeschichtlich, kulturwissenschaftlich, wissensgeschichtlich, interdisziplinär

Fragestellungen, Verfahrensweisen und Methodiken der mit den Künsten befassten Wissenschaften bilden den Ausgangspunkt für einen zeittheoretisch elaborierten Darstellungsbegriff. So wie Kunstwerke dicht beschrieben werden, ihre Gemachtheit aufgedeckt, ihr inneres Wissen erkannt, ihre enge materiale Konstellation ‚gelesen‘ wird, so soll hinsichtlich der Zeitdimension eine Idee von Aisthesis entwickelt werden, die zugleich entschieden das Feld der Kunstanalyse überschreitet. In diesem Sinne ist das Projekt kulturwissenschaftlich, wissensgeschichtlich und interdisziplinär angelegt. Ziel ist es, ‚Kultur‘ und ‚Wissen‘ umfänglich in ihren eigenzeitlichen Verdichtungen zu denken.

Die Kunst als sich ausdifferenzierendes Funktionssystem innerhalb der kulturellen Moderne kennt, wie die anderen sozialen Teilsysteme auch, eigene historisch gestaffelte, autopoietisch konstituierte Zeitlichkeiten. Dabei kann die Kunst hinsichtlich ihres impliziten Wissen befragt werden, da sie prononcierte Formen der ‚Beobachtung zweiter Ordnung‘ hervorgebracht hat, die ihr die Position einer Gestaltungs-, Erkenntnis- und Reflexionsinstanz einzunehmen erlauben, deren Verwerfungen, Korrekturen oder Intensivierungen gesellschaftlicher oder technischer Zeitformierungen über lose Kopplungen auch auf andere kulturelle Teilsysteme zurückwirken. Im Gegensatz zu Konzepten einer inkommensurablen „Plötzlichkeit“ und eines „absoluten Präsens“ der Kunst (Bohrer 1998 und 1994) geht das SPP davon aus, dass technisch-wissenschaftliche, gesellschaftliche und künstlerische Temporalitäten nicht durch klare Demarkationslinien voneinander getrennt sind, sondern zahlreiche übergänge bilden. Sie formen auch keine Hierarchien aus, bei denen Bedeutendes und Unbedeutendes, Abstraktes und Konkretes, Diskursives und Intuitives oder auch Pragmatisch-Affirmatives und Subversives eindeutig korreliert wären.

Deswegen gilt es, die intensive Verflechtung von Zeitdarstellung und Zeit-Wissen im kulturellen Gesamtzusammenhang, in einem die Künste, Wissenschaften; Medien und weitere gesellschaftliche Bereiche umfassenden Ensemble, zu untersuchen. Neben die Entwicklung Ästhetischer, physikalischer, philosophischer und wissenschaftstheoretischer Zeittheorien treten so lebensweltliche Zeiterfahrungen, die Geschichtszeiten und eine Vielzahl spezifischer Kunstzeiten, die zusammen eine polychrone Moderne bilden. Diese Zeitauffassungen haben gemeinsame Komponenten, unterscheiden sich aber auch durch jeweils besondere Akzentuierungen. Beispielsweise pluralisiert sich in der technologischen und naturwissenschaftlichen Moderne die physikalische Zeit durch den dynamischen Bezug von experimentellen Befunden, systematischen Konzeptualisierungsversuchen und mathematischer Schematisierung und wird zur relativistischen Zeit (nach A. Einstein); zudem werden hier Konzepte von Parallelzeiten und mehrdimensionalen Zeiten entwickelt und makro- und mikrokosmische Temporalitäten entdeckt (Quantenmechanik). Zeit entfaltet sich so in vielfacher und je irreduzibel spezifischer Weise, ein Umstand, auf den andere wissenschaftliche Disziplinen und die Künste sich produktiv beziehen und der sie oft auch zur Etablierung alternativer Zeitlichkeitskonzepte veranlasst.

Geschichtszeit und polychrone Moderne

Die Thematik der Darstellung von Zeit sowie der Darstellung in Zeit zu bearbeiten, bedeutet, die Parameter der Moderne-Diskussion aufzugreifen und dabei sowohl deren inhaltliche Ergebnisse als auch deren kategoriale Voraussetzungen, z. B. die Leitthesen der Dynamisierung bzw. Beschleunigung oder die der Synchronisation pluraler Zeitvorstellungen zu einer normierten Zeit, neu zu be- und hinterfragen. Die Kritik zielt dabei auf den monokausalen Zuschnitt der Konzepte, wogegen der geplante SPP versucht, den Gedanken einer polychronen Moderne grundlegend zu entwickeln. Damit geht ein neues Konzept der geschichtlichen Zeiten einher, ebenso die Hinterfragung traditioneller Epocheneinteilungen.

Dabei kann das SPP sich auf neuere Debatten in der Geschichtswissenschaft beziehen, die sich seit einigen Jahren intensiver mit dem Konfliktfeld zwischen normativem Zeitverständnis und der Relativität von Zeitordnungen auseinandersetzt. J. Osterhammel betont gerade mit dem Verweis auf die Globalisierungsschübe des 19. und 20. Jahrhunderts die Brüchigkeit von Versuchen der Periodisierung und Epochengliederung. Daraus ergibt sich, dass die Deutung historischer Entwicklungen innerhalb eines komplexen, räumlichen Gefüges nach sehr viel feineren Zeitrastern und Relationen verlangt, als dies bislang von einer linearen Geschichtsschreibung geleistet wurde. (Osterhammel 2009) Die Analyse Ästhetischer Eigenzeiten leistet diese von Osterhammel geforderte Ausdifferenzierung und Verfeinerung historischer Modelle, indem sie, in Abgrenzung und Kontrast zu abstrakten Theoriemodellen, sich der Formgestalt und Materialität der Kunstwerke, Artefakte und Einzeldinge zuwendet und deren Analysen zusammenführt. Durch diese Neuorientierung der Forschungsperspektive werden produktive Auseinandersetzungen mit Zeitkonzepten aus der Geschichtswissenschaft wie der longue durée (Braudel 1977), der periodisierenden Sinndeutung von Geschichte (van der Pot 1999) oder den Zeitschichten (Koselleck 2000) möglich. Durch die kontextualisierte Untersuchung einzelner Objekte wird zudem eine Konkretisierung des Konzepts der „multiple modernities“ (Eisenstadt 2000) geleistet, das Moderne als Vielfalt unterschiedlicher kultureller Programme und institutioneller Muster fasst.

Auf Grund des beschriebenen Reichtums an Zeitmanifestationen ist es wichtig, sich bei der Analyse nicht auf die notorischen und gut bearbeiteten Umbruchzeiten (‚um 1800‘, ‚um 1900‘) zu beschränken. Gerade das 19. Jahrhundert bedarf einer kleinteiligeren und genaueren Untersuchung, kann es doch als Ausfaltung der im späten 18. Jahrhundert frei werdenden Zeitbegriffe verstanden werden. So geht die globalisierende Zurichtung der Welt in der Folge von Kolonialisierung und Hochimperialismus mit der Konstitution eines akzentuierten Epochenbewusstseins einher. In der Folge vollzieht sich die Wahrnehmung anderer Kulturen unter Zuschreibung exotischer Zeiterfahrungen. Globalisierung zielt auch auf die Herstellung verlässlicher zeitlicher Koinzidenz, gemessen durch Uhr und Kalender, wie B. Anderson deutlich machte (Anderson 1991, Bhabha 1990). Parallel dazu aber stellt sich mit dem Historismus und der Formierung moderner akademischer Wissenskulturen eine Wiedererinnerung der Zeitkonzepte der europäischen Geschichte ein, und es kristallisieren sich zunehmend die Eigenzeiten der sich ausdifferenzierenden Funktionssysteme aus. Dabei ergibt sich, was im SPP mit besonderem Nachdruck herausgearbeitet werden soll, nämlich die Erfahrung einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, der die Künste in besonderem Maße betrifft, aber auch alle anderen gesellschaftlichen Bereiche erfasst. Diese Pluralität der Moderne im Anschluss an neuere Arbeiten (Schneider/Brüggemann [Hg.] 2011) auf breiter Basis nachzuweisen und, in der Fortführung bestehender Ansätze (z. B. Kittsteiner 2010), ihre Konsequenzen für eine neue Epochalität und Periodisierung der Moderne namhaft zu machen, gehört zu den vorrangigen Anliegen des Projekts.

2. Strukturierung der Thematik in Sektionen

Der Untersuchungsgegenstand der Ästhetischen Eigenzeiten fächert sich weiter auf in vier thematisch-methodisch bestimmte Arbeitsgebiete. Diese Aufteilung ermöglicht eine strukturierte Untersuchung der zentralen Fragestellungen und gestattet es den Einzelprojekten, ihre Problematik in interdisziplinären Kontexten zu bearbeiten. Sektion A (Latenzzeit/Werkzeit/Rezeptionszeit) fokussiert die internen strukturellen Eigenheiten von Artefakten und analysiert diese vorwiegend an Kunstwerken. Sektion B (Dargestellte Zeit/Formierte Zeit) fragt nach den Formen der Darstellung von zeitlich nicht präsenten Objekten und Epochen und kombiniert dabei thematische und formale Zugänge, welche die spezifische Ästhetische Prozesshaftigkeit und Formdynamik erfassen. Sektion C (Chronotope) wendet sich der Modellierung von Raum-Zeit-Phänomenen in Objekten unterschiedlicher Herkunft und Machart zu, und Sektion D (Chronie/Achronie/Metachronie) beschreibt einen für die Moderne konstitutiven Widerstreit von Verzeitlichungstendenzen und Entzeitlichungsprozessen quer zu den Disziplinen und Diskursen. Dynamik erhalten diese Sektionen, indem stets verschiedene Wissensfelder, Disziplinen, Medien und Darstellungstechniken in differenten historischen Konstellationen aufeinander bezogen werden und so Artefakte unterschiedlicher Herkunft und Machart auf ihre darstellungstechnischen Lösungen und ihre epistemologischen Gehalte hin befragt werden. Gemäß der thematischen Gliederung werden auch die Sektionen des SPPs gebildet werden, zu denen sich die angestrebten 20 Einzelprojekte gruppieren.

A. Latenzzeit/Werkzeit/Rezeptionszeit

Diese Sektion beschäftigt sich mit den für die Künste zentralen Prozessen der Werkgeschichte, also mit der Entstehung, dem Präsentsein und der Aufnahme und Weiterverarbeitung von Kunstwerken und Artefakten. Im Fokus stehen dabei die Temporalitätsstrukturen von Latenzzeiten, die autorbezogen in langen biographisch vermittelten Werkgenesen entstehen und die eine eigene zeitliche Dynamik besitzen, wobei das vorhandene Werk diese Latenzen nicht beendet, sondern sie als dargestellte Ästhetische Eigenzeit gegenwärtig macht und an den Rezeptionsprozess weitergibt. Entsprechend lässt sich von Formen solcher akut gegebenen Ungegenwärtigkeit (Khurana, Diekmann [Hg.], 143) in Gattungssystemen oder Genres sprechen oder von solchen in Epochenkodes. Analog entstehen Latenzen aber auch in Wissensprozessen und in historisch-gesellschaftlichen Formationen. Zwischen diesen Einheiten etablieren sich, immer noch im Latenzraum, mannigfache Querverbindungen, deren Artikulation zum nicht geringen Teil den Künsten oder sich künstlerischer Darstellungsformen bedienender anderer Diskurse aufgetragen ist. Da Latenz eine Potentialität ist, die sich nicht in der Verwirklichung auflöst, markieren Latenzen einen Möglichkeitsraum, in dem sich Unverwirklichtes ansammelt. So ergibt sich kunstintern und kunstextern ein gegen die Realgeschichte anwachsender historischer Latenzraum, der Ungleichzeitigkeiten, Widersprüchliches oder unterschiedliche semiotische Niveaus (Semantik, Bilder, flüchtige übergangsphänomene) enthält, die in spannungsreichen Beziehungen zur realisierten Form der Werke und ihrer Rezeption stehen. Im Bereich der Bildenden Künste ist zu beobachten, dass um 1800 Bildwerke nicht allein die Abbildung der sichtbaren Welt, sondern zunehmend auch den Prozess ihrer Aneignung und Wiedergabe thematisieren, womit die grundsätzlich überschüssige und vorgängige Anschaulichkeit vor der Anschauung als eine spezifische Latenzform in die Werkzeit hinein genommen wird.

Der Teilbereich fragt weiter, damit über den engeren Untersuchungsbereich der Künste und ihrer Objekte hinausgehend, welche Konkordanzen es zwischen den im engeren Sinne Ästhetischen Latenzen und dem Prozess der Latenzen im Bereich des Historischen und des Wissens gibt und wie diese sich in Werkzeit und Rezeptionszeit übersetzen. Dabei ist die These forschungsleitend, dass Latenzen überhaupt nur dann artikuliert werden können, wenn Verfahrensweisen, die nicht der Logik des Ausschlusses unterliegen, sie darzustellen versuchen: Erst die Analyse Ästhetischer Eigenzeiten und ihrer entsprechenden Darstellungsformen kann deshalb Latenzen namhaft machen. Diese komplexen Prozesse sollen in Projekten mit zugleich thematischem und theoretischem Anspruch verfolgt werden, die Literatur als Verlaufskunst und die Poetiken der Latenz untersuchen, die Möglichkeiten musikalischer Zeitregie erkunden, den temporalen Strukturen der Figuration von Rhythmus im Tanz und den sich überlagernden Zeitschichten der Oper nachgehen, Prozesse der Bildkonstitution und Bildrezeption analysieren sowie die Verläufe historischer Epochenkonstitution reflektieren.

B. Dargestellte Zeit/formierte Zeit

In diesem Teilbereich wird die Präsentation und Repräsentation von historischer Zeit in verschiedenen Medien, anhand differenter Objekte und mittels unterschiedlicher semiotischer Praktiken untersucht. Das Darstellungsproblem, das sich dabei stellt, betrifft die Vergegenwärtigung eines durch seine chronologische Situierung Abwesenden und schwer Fassbaren, also das sinnliche Wahrnehmbarmachen von Gegenständen der Vergangenheit oder der Zukunft in der Gegenwart. Diese Aufgabe der Präsenzerzeugung eines zeitlich Zurückliegenden durch Anreicherung von überlieferung durch die Einbildungskraft stellt sich den Repräsentationsmedien per se, sie verändert und radikalisiert sich aber im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts. Erstens tritt nun die vorausliegende Zeit, also die Zukunft, durch den Druck wissenschaftlicher Objekte und geschichtsphilosophischer Fortschrittsmodelle als neue Herausforderung hinzu, welche die Bild- und Textmedien noch stärker auf die Darstellung eines zwangsläufig Unbekannten verpflichtet, zweitens dehnt sich die Vergangenheit durch Einsichten der Geologie, später der Evolutionstheorie in scheinbar unendliche Tiefen, und drittens wird Prozessualität zu einem unabdingbaren Aspekt des Historischen, was es notwendig macht, Wandel als Verlaufsform von Geschichte in die Darstellung miteinzubeziehen. Dies manifestiert sich besonders deutlich in der neuen Aufmerksamkeit, die Beschleunigungs- und Entschleunigungsvorgängen in der Moderne zu Teil wird, wobei dabei vor allem Fragen der Darstellbarkeit von Geschwindigkeitsveränderungen und ihren eigenzeitlichen Effekten wichtig werden. Dabei gilt es zu untersuchen, welche Ästhetischen semiotischen Mittel welche Eindrücke von welchen Formen der Be- und Entschleunigung zu vermitteln vermögen, wobei geklärt werden muss, inwiefern die Ästhetischen und semiotischen Techniken selbst Be- bzw. Entschleunigungswirkungen unterliegen und inwiefern Wahrnehmungs- und Darstellungsveränderungen Agenten historischer Akzelerationsprozesse sind.

In methodischer Hinsicht wird durch die Anlage der Sektion darauf insistiert, dass die Analyse von ‚dargestellter Zeit‘ immer auch diejenige von ‚formierter Zeit‘ einbegreift, indem sie die Frage nach dem Was der Darstellung mit einer nach dem Wie verbindet. Die Sektion untersucht deshalb auch spezifische Formgeschwindigkeiten und deren jeweilige Funktionalisierungen, sie befasst sich mit performativen und nichtpropositionalen Aspekten der Darstellung wie Rhythmus, Tempo, Stimmung etc., und sie analysiert die formbildenden Phänomene der Zeitlichkeit wie Wiederholungen, Pausen, Unterbrechungen, Dehnungen, Raffungen und Ähnliches. Dabei wird davon ausgegangen, dass Darstellung seit 1750 heißt, die Bedingungen der eigenen Verfasstheit mit zu exponieren und damit besonders im Kunstwerk die „eigene Frage als Form“ (Wellbery 2006, 234) erscheinen zu lassen, was Repräsentation in der Moderne eng an Momente der Performanz koppelt. In diesem wechselseitigen Bezug von thematischen und darstellungstechnischen Aspekten Ästhetischer Eigenzeitlichkeit wird deutlich, dass Zeit wohl Träger von Formen ist, dass jedoch im Gegenzug Formen immer auch Träger von Zeit sind. Diese Orientierung der Sektion ermöglicht es, Projekte, die sich mit den je unterschiedlichen Darstellungsproblemen von entrückten Zeiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie deren performativer Präsentierung als Erinnerung oder Traum auseinandersetzen, mit solchen zu verknüpfen, die sich der formalen und sozialen Bedeutung von Geschwindigkeitswechseln zuwenden.

C. Chronotope

Die Sektion wendet sich in fächerzusammenführender Weise der kulturellen Modellierung von Zeit-Raum-Beziehungen seit der frühen Neuzeit zu. In den Chronotopen (Bachtin 2008) gewinnt Zeit eine konkrete, sinnlich erfahrbare Gestalt und eine kulturelle Orientierungs- und Sinnfunktion. Erforscht wird die Modellierung solcher Zeitgestalten anhand von künstlerischen wie nicht- künstlerischen Formen. Gefragt wird in gemeinsamer thematischer und methodologischer Fokussierung erstens, wie und mit welchen Verfahren raumzeitliche Ordnungen in unterschiedlichen Medien und Werken konstituiert werden, wie diese Ordnungen strukturiert sind, wie sie erfasst und beschrieben werden können; zweitens, wie sich die raumzeitlichen Ordnungsstrukturen, die in den Mikrokosmen künstlerischer Darstellungen aufgewiesen werden können, zu den temporalen Ordnungsbildungen verhalten, die sich in den Darstellungsformen der wissenschaftlichen, philosophischen, politischen wie religiösen Argumentationen manifestieren; drittens, in welcher Weise und auf welchen Ebenen differente Chronotope miteinander konfligieren; viertens, wie die geschichtliche Transformation lebensweltlicher wie wissenschaftlicher und künstlerischer Chronotope zu erklären ist; fünftens, in welcher Weise historisch überholt erscheinende Chronotope jenseits ihres Entstehungskontextes als Anachronismen weiterleben, verfügbar bleiben und – im Sinne einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – revitalisiert werden können; und sechstens, in welcher Weise die unterschiedlichen Chronotope morphologisch geordnet werden können.

Untersuchungsgegenstände dieses Arbeitsgebietes sind die Konstruktion und Verknüpfung von Zeitebenen und -räumen durch Verfahren der Repetition (wie Leitmotive) und der Sequenzialisierung, die Konstitution, Transformation und Auflösung von dargestellten Zeit- Räumen in den Künsten (von der Literatur über die bildende Kunst bis zu Musik und Tanz), die raumzeitliche Verankerung von Epochenimaginationen und -konstruktionen wie die Raum-Zeit- Koordinaten von Wissensordnungen, Welt- und Menschenbildern und deren Prädispositionen. Weiter wird gefragt, wie sich die Landschaftsdarstellung im 19. Jahrhundert durch die Erschließung geologischer Zeiträume und die Einsicht in die unendliche Langsamkeit erdgeschichtlicher Prozesse verändert oder in welchem Verhältnis die Konstitution raumzeitlicher Ordnungen in der modernen Musik, in der modernen Choreographie und im modernen Film zu den herrschenden sozialen Zeitschemata steht.

Die Sektion zielt auf zweierlei: Zum einen auf die Etablierung einer methodologisch verfahrenden Chronotopen-Analyse und zum andern auf die Herausarbeitung der temporalen Konflikte, die über die Erforschung der Ästhetischen Eigenzeiten sichtbar werden: Ästhetische Eigenzeiten machen die irreduzible Polychronie wahrnehm- und reflektierbar und verweisen damit auf die inneren Brüchigkeiten und Instabilitäten der kulturellen Produktionen und Sinnentwürfe. Die problemgeschichtliche Rekonstruktion solcher Zeitkonflikte vertieft zudem die Einsicht in die Genese künstlerischer Gattungen und Formen.

D. Chronie/Achronie/Metachronie

Die Sektion untersucht den Zusammenhang und die Dynamik von zeitbasierten, zeitaufhebenden und zeittranszendierenden Lebens-, Erkenntnis- und Darstellungsformen in der kulturellen Moderne. Sie fokussiert in besonderer Weise Spannungen, die sich zwischen einem Denken auf die Zeit hin bzw. von der Zeit her und einem Denken gegen oder über die Zeit hinaus zeigen. Sichtbar gemacht werden diese Spannungen in Darstellung und Formarbeit moderner Kunstwerke wie in Konfigurationen des wissenschaftlichen und philosophischen Bewusstseins. Die Temporalitätsanalysen der Teilprojekte explizieren die spezifischen ‚Zeitigungsweisen‘ von Phänomenen und den Widerstreit von Verzeitlichungstendenzen auf der einen und Entzeitlichungsprozessen auf der anderen Seite. Erforscht wird auf der Grundlage interdisziplinärer Zusammenarbeit das Problemfeld gegensätzlicher Strategien, die darauf abzielen, entweder Zeit zum letzten Horizont des Darstellens und Erkennens zu machen oder den Gesichtskreis der Zeit zu transzendieren.

Die Strategien der Detemporalisierung können mit der Darstellung von Augenblicklichkeit, Plötzlichkeit und Ereignishaftigkeit verbunden sein und in unterschiedlicher Weise die Unterbrechung oder Aufhebung der zeitlichen Ordnung zum Thema machen. Sie können aber auch, in Anknüpfung an die traditionelle Metaphysik wie in bewusster Loslösung von dieser, Konzeptionen von Ewigkeit zum Horizont des Verstehens machen. Mit der Untersuchung der Formen des metachronischen, d. h. zeitüberschreitenden Denkens rückt zudem das Verhältnis von polychroner Moderne und Metaphysik (Theunissen 1991, 38) in den Fokus der Aufmerksamkeit.

Die Sektion verbindet Problemanalysen quer zu den disziplinären Diskursen und führt Fragestellungen der Wissenschaftsforschung, der Politikwissenschaft, der Soziologie und Geschichtswissenschaft mit denen der kunstwissenschaftlichen Fächer und der Philosophie zusammen. Erhellt wird, in welcher Weise die Zeitlichkeiten der Phänomene (Chronien) dem Forschen Bedingungen schaffen, die den ganzen Forschungsvorgang durchdringen und diesem eine Form und Richtung vorgeben. Lebensvorgänge haben in diesem Sinne eine eigene, intrinsische Zeit, die in der Untersuchung nicht übergangen werden kann. Untersucht werden die Verzeitlichungen politischer, soziologischer, juristischer und philosophischer Diskurse auf der Basis radikaler Historisierung im Widerstreit mit Begründungsversuchen, die auf über- oder außerzeitliche Geltung referieren (Metachronien). Erforscht werden weiter Darstellungsformen und Narrative, die Achronie epistemisch zur Geltung bringen, indem sie chronologische Relationen überhaupt tilgen oder Abläufe verlangsamen und unterbrechen, Zeitsprünge und Wiederholungen realisieren und auf diese Weise die Vorstellung eines für alle verbindlichen unumkehrbaren Voranschreitens der Zeit untergraben.

3. Forschungslage

Überblick

Zeit ist ein Konstitutivum menschlicher Welterschließung. Bis heute existiert, auf Grund der sich daraus ergebenden kulturellen Grundsätzlichkeit des Phänomens, keine umfassende und einheitliche Zeittheorie, sondern ein problematisches Nebeneinander irreduzibler Zeitvorstellungen. Dies lässt die Frage nach Systematisierungsweisen der diversen überhaupt möglichen und entwickelten Zugangsweisen zu Zeit entstehen (Gloy 2006, 14).

Das sich von der Metaphysik emanzipierende Zeitdenken, wie es von I. Kant bis zur Phänomenologie des 20. Jahrhunderts hervorgetreten ist, bildet eine Basis der modernen Zeitforschung: Drei widerstreitende Tendenzen werden auf dem Weg dieses Zeitdenkens sichtbar: Die Zeit wird über ihre Transzendentalisierung subjektiviert, sie wird in der Folge pluralisiert, d. h. in Zeiten aufgespalten, und sie wird – die Auflösung in viele Zeiten wiederum unterlaufend – universalisiert (Theunissen 1991, 39). Subjektivierung, Pluralisierung wie Universalisierung legen den Grund für die breit gefächerte gegenwärtige Zeitforschung, an der nicht nur die Philosophie und Wissenschaftstheorie, Physik, Biologie, Medizin, Psychopathologie, Psychologie, Sprachwissenschaften, Ethnologie, Geschichts- und Wirtschaftswissenschaft, Umweltforschung, Soziologie und Theologie einen gewichtigen Anteil haben. Vielmehr differenzieren sich immer neue wissenschaftliche Forschungsfelder aus: von der Chronobiologie über die Zeit-Soziologie bis zur Chronopharmakologie.

Das Schwerpunktprogramm konzentriert sich innerhalb dieser kaum überblickbaren Fülle auf die Untersuchung von Zeitgestalten der kulturellen Moderne im Medium ihrer unterschiedlichen wissenschaftlichen, philosophischen und künstlerischen Darstellungsformen. Es entfaltet das Problem der Inkommensurabilität der Eigenzeiten, das mit J. G. Herders und F. W. J. Schellings Kritik an Kants Zeitbegriff geschichtlich hervorgetreten ist. Methodisch erschlossen und aufgewiesen werden soll über das Konzept der Ästhetischen Eigenzeiten, wie komplex Artefakte mit der Vielzeitigkeit und der Heterogenität der Zeitvorstellungen umgehen: wie sie unterschiedliche Ordnungen von Zeit konfigurieren, differente Ordnungsmuster der Zeit miteinander und mit den Formen der alltäglichen Zeiterfahrung in Beziehung setzen und wie sie die Veränderung geschichtlicher Temporalitätsstrukturen reflektieren.

Dieser Fokus lässt das SSP an jüngere Forschungsinitiativen anknüpfen und mit ihnen in produktive Auseinandersetzung treten. Ein wichtiger Bezugspunkt für das geplante SPP ist das Graduiertenkolleg „Zeiterfahrung und Ästhetische Wahrnehmung“ an der Universität Frankfurt, das sich von 1998 bis 2007 in drei Förderphasen des Zusammenhangs von Zeittheorie und Ästhetik angenommen hat und die Ästhetische Bearbeitung der Modernisierungsprozesse sowie deren Effekte auf die Künste bearbeitet hat. Kann das projektierte SPP in vielerlei Hinsicht von den Vorarbeiten des Frankfurter Graduiertenkollegs profitieren, so beschreitet es doch entschieden neue Wege, indem es die Expertise der Künste nicht als Gegendiskurs zur wissenschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Moderne und ihren Zeitfunktionen fasst. Indem von ‚Darstellung‘ und ‚Wissen‘ als leitenden Kategorien ausgegangen wird, soll eine kulturwissenschaftlich und wissensgeschichtlich akzentuierte Perspektive eingenommen werden, welche eine deutliche Erweiterung des Fokus ermöglicht. Diese neue Breite der Materialerschließung und -analyse wird auch zustande kommen, weil im Gegensatz zum Frankfurter Graduiertenkolleg keine Konzentration auf die gängigen Umbruchsepochen (‚um 1800‘, ‚um 1900‘) angestrebt, sondern gerade der Blick auf weniger beachtete Zeiträume gerichtet wird und damit auch die gängigen Epocheneinteilungen in Frage gestellt werden sollen. Diese Orientierung markiert auch die Differenz zum SFB 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ an der Freien Universität Berlin, der gerade deshalb und auch wegen der personellen überschneidung (Prof. Bertram, Prof. Brandstetter) ein wichtiger Austauschpartner sein wird.

Die kulturwissenschaftliche Ausrichtung hat das SPP gemeinsam mit zwei Promotionskollegs, zum einen mit demjenigen zu „Zeitkulturen“, das im Rahmen des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen der Integration“ der Universität Konstanz bis 2011 aktiv war, und zum andern mit demjenigen zu „Zeitstrukturen des Sozialen. Kontinuität und Diskontinuität gesellschaftlicher Entwicklungen in der Moderne“ am Institut für Soziologie der Friedrich Schiller-Universität Jena. Beide Kollegs gehen den unterschiedlichen Ausrichtungen von gesellschaftlicher, institutioneller und individueller Zeit nach, untersuchen die Funktionssysteme in den verschiedenen Kulturen und fragen nach den Bedingungen, unter denen temporale Ordnungen erzeugt werden. Das SPP wird, in Zusammenarbeit mit Exponenten der Kollegs und auf wesentlich breiterer Basis der Forschungsarbeit, diese Ansätze fortführen, wobei sich die Aufmerksamkeit von den ‚Zeit- Kulturen‘ und den ‚diskursiven Zeitordnungen‘ hin auf die Darstellungsdimensionen der Artefakte und deren Untersuchung verschiebt.

Hinsichtlich der Moderne-Diskussion wiederum hat das vorliegende SPP durch die entschiedene Orientierung auf die Artefakte hin Bezüge zur Forschergruppe „Anfänge (in) der Moderne“ an der LMU München. Eine wesentliche Differenz besteht jedoch darin, dass die Prozesse der Moderne nicht über Konstruktionen eines Anfangs, sondern über die zentrale Figur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in den Blick genommen werden. Auf Grund ihrer komplementären Expertisen stellen zudem auch die schwerpunktmäßig sozialwissenschaftlich ausgerichteten Unternehmen des SFB 536 „Reflexive Modernisierung“ an der LMU München sowie das von der VW-Stiftung geförderte, international angelegte Projekt „Kontingenz und Moderne“ wichtige Bezugspunkte und potentielle Partner für punktuelle Kooperationen dar.

Damit lässt sich die Ausrichtung und das Innovationspotential des SPPs in Abgrenzung zu den wichtigsten Forschungsinitiativen der letzten Jahre knapp und prägnant folgendermaßen formulieren: Die Leitparadigmen sollen Zeitdarstellung und Zeit-Wissen, nicht Zeiterfahrung und Ästhetische Wahrnehmung bilden; die Ausrichtung soll in der beschriebenen Weise kulturwissenschaftlich und wissensgeschichtlich sein; es soll keine Konzentration auf spezifische Sattelzeiten geben, die Aufmerksamkeit soll vielmehr der Untersuchung der von den Objekten ausgehenden Impulsen gelten, in deren Folge sich auch Fragen der Periodisierung in neuer Weise stellen können; im Zentrum soll die Eigensinnigkeit und Widerständigkeit von Kunstwerken, Artefakten, Gegenständen stehen; die leitende Differenz und die konzeptuelle produktive Dynamik verläuft deshalb nicht zwischen den Künsten und der Ästhetik einerseits und den Wissenschaften, der Technik und der Gesellschaft andererseits, sondern zwischen den Gegenständen zum einen und den Diskursen und Theorien zum anderen.

4. Ziele

Aus der geschilderten Sachlage ergeben sich für das Projekt vier übergreifende Forschungsziele:

Erstens soll die grundlegende Bedeutung von Darstellungsprozessen für die Erfahrung und Reflexion von Zeit aufgezeigt werden; es sollen neue kulturwissenschaftliche Aspekte und Paradigmen der Zeitlichkeit durch die analytische Befragung von Artefakten, ihren formalen Strukturen und ihren Kontexten herausgearbeitet werden. Damit soll nachdrücklich gezeigt werden, dass Entwicklungen im Bereich der Darstellungsformen und -funktionen die Wissensordnungen prägen. Durch eine systematische Akzentuierung der Bedeutung nicht- propositionaler Strukturen für das Zeit-Wissen wird ein Manko der bisherigen Zeitforschung bearbeitet, was es erlauben wird, Ästhetische Eigenzeiten als zentrale epistemische Formation im Feld der modernen Zeitkonzepte zu etablieren.

Zweitens sollen für den engeren Bereich der Künste zwei analytische Zugänge aufeinander bezogen werden: zum einen die theoretische Reflexion von Zeitstrukturen durch künstlerische Artefakte, zum andern die Untersuchung von Zeit und Zeitlichkeit als wesentliche Dimension der Produktion und Rezeption von Kunst. Es wird also gefragt nach dem Zusammenhang des Zeit- Wissens der Künste mit der Zeitlichkeit ihrer Darstellungsformen. Dabei sind für die unterschiedlichen Künste je differente Ergebnisse und Akzentsetzungen in der aktuellen Forschungslandschaft zu erwarten. Während für die sogenannten ‚Raumkünste‘ (Architektur, bildende Kunst) diese Fragestellung weitgehend neu ist, erlaubt es der interdisziplinäre und vergleichende Zugang, bei den sogenannten ‚Zeitkünsten‘ (Musik, Literatur) und bei den Raum- Zeit-Künsten und -Medien (Theater, Tanz, Film, Fernsehen, digitale Medien) neue Fragestellungen und Themenfelder zu entdecken. Die hier erzielten Einsichten sollen dann auch für die nicht mit den Künsten befassten Disziplinen fruchtbar gemacht werden.

Drittens zielt das SPP auf eine Revision des bestehenden Bildes der Moderne, indem es deren Ästhetische Darstellung entschieden auf ihre gesellschaftlichen und insbesondere wissenschaftlich-technologischen Dimensionen bezieht, in dieser Weise bisher verborgen gebliebene Elemente moderner Zeitlichkeit herausarbeitet und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als herausragendes Merkmal einer in sich vielgestaltigen Moderne nachweist. Es ist überdies zu erwarten, dass die etablierten historischen Periodisierungen der Geschichte der kulturellen Moderne in Frage gestellt und neue Konzepte kultureller Verlaufsformen entwickelt werden können. In beiderlei Hinsicht sollen die Momente von Pluralität in der Moderne, ausgehend vom Aufweis ihrer grundlegenden Polychronie, verdeutlicht werden.

Viertens soll die übergreifende theoretische Frage bearbeitet werden, wie sich Wissen, hier dasjenige über Zeit und Zeitlichkeit, durch Praktiken der Formgebung und durch formale Strukturen herstellt bzw. welche Rolle Formaspekte für die Etablierung einer wissensgeschichtlich orientierten kulturwissenschaftlichen Fächerpluralität haben. Es geht dabei um die Bestimmung der methodischen Indikationskraft von künstlerischen und nicht- künstlerischen Darstellungsformen am Beispiel der Artikulation von Zeitlichkeit durch Form. Zu erwarten ist hiervon eine Neubestimmung der Valenz von Einzelwerken und formaler Gestaltung für die Wissensgeschichte.

5. Anlage und beteiligte Disziplinen

Um diese Ziele erreichen zu können, müssen Einzelprojekte aus verschiedenen Disziplinen zusammengeführt und durch die unten genauer beschriebenen Arbeitsinstrumente aufeinander bezogen werden. In der ersten Projektphase soll ein Schwerpunkt auf die historisch-Ästhetische Expertise aus den Fächern, die sich genuin mit den Künsten befassen, gelegt werden. Dies erfordert eine größere Anzahl von Einzelprojekten aus der Kunstwissenschaft, der Literaturwissenschaft, der Musikwissenschaft, den Bild- und Medienwissenschaften und der Tanz-, Theater- und Filmwissenschaft. Diese sollten in den ersten drei Jahren der Laufzeit rund 75 Prozent der Einzelprojekte ausmachen, um eine genügend große innerdisziplinäre Vielfalt zu garantieren. Die Arbeit soll dabei auf künstlerische Artefakte und ihr Verhältnis zu den historischen und kulturellen Kontexten sowie die Involvierung in diachrone Verläufe gerichtet sein, wobei darauf zu achten sein wird, dass wiederum die Hälfte dieser Untersuchungen innerhalb ihrer Disziplinen kulturwissenschaftlich bzw. wissensgeschichtlich orientiert sind.

Ergänzt werden die mit den Künsten befassten Projekte durch solche aus Disziplinen mit Expertisen im Bereich der theoretischen Reflexion und der Analyse von nichtkünstlerischen Produkten, also vor allem Philosophie, Soziologie, Wissenschaftsgeschichte, Kultur-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Religionswissenschaft und Politologie. Diese haben eine doppelte Leistung für das Gesamtprogramm zu erbringen: Einerseits sollen sie neue Ergebnisse im eigenen Fachbereich durch Fokussierung auf Fragen der Darstellung, also der Repräsentation und Performanz der eigenen Gegenstände hinsichtlich ihrer Zeitlichkeit, erzielen, andererseits sollen sie die theoretisch-reflexive Kompetenz ihrer Fächer für die Erklärung von Eigenzeitlichkeit beisteuern und so die Arbeit der Ästhetischen Disziplinen unterstützen.

Diese unterschiedliche Orientierung der Fächer bildet sich ab in einem dynamisierten Forschungsverlauf des Gesamtprojekts. Nach der Fokussierung auf die mit den Künsten und ihrer theoretischen Reflexion befassten Disziplinen in den ersten drei Jahren ist vorgesehen, in der zweiten Phase durch eine entschiedenere Aufmerksamkeit auf kulturwissenschaftliche und wissensgeschichtliche Aspekte sowie durch einen verstärkten Zuzug von Teilprojekten aus kunstexternen Fächern diese Ergebnisse verstärkt hinsichtlich ihrer transdisziplinären Adaptierbarkeit zu reflektieren. Hierfür werden auch naturwissenschaftliche und ingenieurwissenschaftliche Projekte mit einbezogen. Workshops mit Vertreter/innen dieser Fächer werden bereits in der ersten Phase die Möglichkeiten und Bedingungen der Zusammenarbeit austesten.

Notwendigkeit und Aktualität

Das SPP soll Exponenten eines bisher nur vereinzelt betriebenen Forschungsansatzes zusammenführen, eine derzeit aktuelle Thematik in ihren zentralen Fragestellungen erfassen und in notwendiger Breite behandeln. Angestrebt wird, einen innovativen Zugang zu einem wichtigen Reflexionsgebiet der Geisteswissenschaften in Einzeluntersuchungen auf seine analytische Fruchtbarkeit hin zu überprüfen. Die geisteswissenschaftliche Zeitforschung wird durch die kulturwissenschaftliche Erweiterung neu fundiert und erheblich weiterentwickelt, wodurch auch die zeitanalytischen Fachexpertisen aller beteiligten Disziplinen präzisiert und gestärkt werden. Das SPP wird damit nach einer Phase, in der die kulturwissenschaftlichen Fächer vornehmlich den Raum als Paradigma ihrer Fragestellungen erschlossen haben, die grundlegende Bedeutung von Zeit insbesondere für die Kultur der Moderne in neuer Differenziertheit aufweisen.

Die vorgeschlagene Thematik von ‚Zeit und Darstellung‘ eignet sich in besonderer Weise für die Untersuchung im Rahmen eines DFG-SPPs. Nur die Netzwerk-Struktur und der damit verbundene Umfang an Einzelprojekten erlauben es, bei gleichzeitiger Präzision der Einzelanalysen die nötige disziplinäre und historische Breite zu erreichen, um die Forschungsfragen der Ästhetischen Eigenzeitlichkeit zum ersten Mal gebündelt und umfassend zusammenzustellen. Für die Bearbeitung des umfangreichen und komplexen Fragenkatalogs, der im Besonderen auch die Pluralität der Moderne fokussiert, sind Vielfalt und Breite an Einzelprojekten, wie es das SPP ermöglicht, unerlässlich.

Das Forschungsfeld verspricht so ein großes Innovationspotential für die geistes- und kulturwissenschaftliche Forschung, umfasst aber zugleich einen eminenten Teil alltäglichen Erlebens und Handelns. Die Heterogenität von Zeiterfahrung, das Phänomen des Ausstiegs aus synchronisierten Zeitschienen und die Wahrnehmung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sind Momente, die der kulturwissenschaftlichen Analyse von Zeit und Zeitlichkeit ebenso zugänglich sind wie sie die praktischen Lebensdimensionen aller Menschen betreffen. Das SPP erbringt dadurch eine wichtige Reflexionsleistung für die historisch perspektivierte Selbstwahrnehmung und -verantwortung gerade in Zeiten eines neuen Globalisierungsschubs, der Formen der Beschleunigung und der Eigenzeitlichkeit als eminente Momente von Krise und Umbruch wahrnehmbar macht. Auf Grund dieser Virulenz der Thematik sollen besondere Bemühungen unternommen werden, um die fachwissenschaftliche, auf Innovation und Exzellenz zielende Forschung allgemeinverständlich zu vermitteln und einer breiteren öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Umsetzung und Organisation

1. Arbeitsprogramm

Um die komplexe Fragestellung und die verschiedenen Forschungsziele koordiniert und strukturiert bearbeiten zu können, sind verschiedene Ebenen der Forschung notwendig. Erstens sollen im Rahmen der Einzelprojekte die detaillierten und kleinteiligeren Untersuchungen betrieben und die Qualifikationsarbeiten erstellt werden; zweitens werden übergeordnete Perspektiven in den Sektionen verhandelt; und drittens werden die Zusammenfassung und der Austausch der Resultate, ihre Inbezugsetzung mit dem Rahmenthema sowie die Reflexion der vier Forschungsziele im Gesamtprojekt geleistet.

Die Forschungsmaximen sehen vor, dass ausreichend Raum und Zeit für Austausch ohne Profilierungsdruck vorhanden ist und dass sorgfältig erarbeiteter, qualitativ hochwertiger Output angestrebt wird. Dies soll erreicht werden durch folgende Arbeitsinstrumente:

Workshop: Der Workshop soll innerhalb des SPPs die primäre interaktive Arbeitsform sein. Wegen seines informellen Formats ist er besonders geeignet für die Diskussion methodisch- theoretischer Problematiken und den Austausch über konzeptuelle Fragen. Er erfüllt deshalb drei verschiedene Funktionen: Erstens fördert er den Austausch einzelner oder mehrerer Einzelprojekte mit externen Expert/innen und ausgesuchten Projektmitgliedern zu Problemfeldern ihrer Fragestellung(en); diese Workshops sollen in der Regel nicht zu Publikationen führen, sondern vor allem der Qualität der Monographien zu Gute kommen. Zweitens dient er der Verständigung innerhalb der Sektionen; die Sektionen-Workshop finden zweimal in drei Jahren statt und zielen auf die Edition eines Aufsatzbandes mit Kompendiums-Charakter pro Sektion. Diese Bände sollen ihre jeweiligen Thematiken systematisch erschließen und hinsichtlich der konzeptuellen Ausrichtung des Bandes und der Qualität der Einzelbeiträge überzeugen; sie sind gegliedert in eine das Thema zusammenfassende, strukturierende und perspektivierende Einleitung sowie längere Beiträge (30–50 Seiten) monographischen Charakters, welche die Ergebnisse der einzelnen Projekte, fokussiert auf die übergreifende Fragestellung der Sektion, präsentieren. Drittens ermöglicht er die Erarbeitung der allgemeineren und methodischen Fragestellungen des Gesamtprojekts, z. B. Fragen des Moderne-Konzepts oder des Zusammenhangs von Wissen und Form; dieser Theorie-Workshop mit interessierten Projektmitgliedern und Gästen findet einmal pro Jahr statt und zielt auf die Publikation der Ergebnisse in einem Sonderheft einer renommierten referierten Zeitschrift. Viertens sollen in der ersten Phase Arbeitstreffen mit Natur- und Ingenieurswissenschaften durchgeführt werden, um zu evaluieren, wie eine für beide Seiten gewinnbringende Integration dieser Disziplinen in der zweiten Phase zu gestalten ist.

Internetplattform: Die von der/m Senior Researcher in Jena betreuten Internetplattform dient der Außendarstellung, der kontinuierlichen Präsentation von Arbeitsfortschritten, der Information über Materialerschließung, der Vor- und Nachbereitung der Workshops, dem allgemeinen Austausch innerhalb des SPPs sowie der methodisch-theoretischen Diskussion, die im Rahmen eines ‚Theorielabors‘ geführt werden und das theoretische und methodische Wissen der unterschiedlichen Disziplinen fächerübergreifend mit Blick auf die Forschungsziele zusammenführen soll. Weiter werden hier die Ergebnisse der Veranstaltungen dokumentiert, die nicht zu Buchpublikationen führen; Vorträge und Präsentationen in Workshops sollen in überarbeiteter Form hier publiziert werden können. Zudem dient die Plattform dem Informationsfluss über die Sektionen hinweg. Ihre interne Funktion besteht in der Optimierung von Kommunikation und der Minimierung von Reisen sowie der Bereitstellung von work in progress und von im Veröffentlichungsprozess oder im Druck befindlichen Forschungsergebnissen der einzelnen Mitarbeiter/innen. Extern informiert sie in Form eines Blogs, das im Rahmen der öffentlichkeitsarbeit kontinuierlich aktualisiert und in enger Abstimmung mit den Mitarbeiter/innen ergänzt und erweitert wird, eine interessierte akademische und kulturelle öffentlichkeit über die Aktivitäten und Ergebnisse des Netzwerks.

Jahrestagung: Die Jahrestagungen werden vom Leitungsgremium projektiert und greifen jeweils einen wichtigen systematischen Aspekt der Gesamtthematik auf. Sie werden von den Sprechern und der/m Koordinator/in, in Absprache mit dem Leitungsgremium und unterstützt durch studentische Hilfskräfte und die/den wissenschaftliche/n Mitarbeiter/in, über die Internet-Plattform vorbereitet, organisiert und durchgeführt. Der Kreis der Referent/innen rekrutiert sich aus den Projektmitgliedern und internationalen Expert/innen; die Jahrestagungen dienen der internen Verständigung und der Außendarstellung und zielen auf die Herausgabe eines Ergebnisbandes pro Förderungsperiode, der die übergreifenden Resultate des Gesamtprojekts enthält. Vorgesehen ist die Teilnahme aller Projektmitglieder; integriert in die Jahrestagungen ist auch das Jahrestreffen aller Einzelprojektleiter/innen.

Zwischen- und Abschluss-Kolloquium: Das Zwischenkolloquium wird vom Leitungsgremium in Zusammenarbeit mit den Senior Researchers organisiert und findet nach Abschluss der ersten Phase nach drei Jahren statt. Es dokumentiert die Ergebnisse der ersten Phase; gleichzeitig sollen dort die zentralen Fragestellungen für die zweite Phase vorgestellt werden. Das Abschlusskolloquium fasst die Ergebnisse des gesamten SPPs unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiten in der zweiten Periode zusammen. In den Kolloquien stehen die Präsentationen von Projektmitgliedern und die Kommentare von internationalen Expert/innen im Zentrum; sie richten sich an ein allgemeineres Fachpublikum und die öffentlichkeit. Begleitet werden die Jahrestagungen von einer Heftpublikation, welche die Ergebnisse der jeweiligen Arbeitsphasen synthetisiert und in einer allgemeinverständlichen Form präsentiert.

Summer School: Die Summer Schools finden zwei Mal in drei Jahren an unterschiedlichen Universitäten statt und dienen dem Austausch mit und zwischen dem wissenschaftlichen Nachwuchs, von fortgeschrittenen Masterstudierenden bis hin zu Postdocs. Vorgesehen ist es, projektinterne und -externe Mitarbeiter/innen mit Qualifizierungsprojekten zusammenzuführen. Die projektinternen Mitarbeiter/innen sollen in enger Abstimmung mit den Senior Researcher und unterstützt durch studentische Hilfskräfte weitgehend die Planung, Organisation und Durchführung der Summer Schools übernehmen, so mit der Abwicklung akademischer Veranstaltungen vertraut werden und Unterrichts- und Vortragspraxis gewinnen.

2. Nachwuchsförderung

Die Ausbildung der Doktorierenden und Postdocs ist ein zentrales Anliegen des Projekts. Dabei werden die Vorteile der Netzwerkstruktur optimal genützt, und durch den Einsatz der beiden Senior Researcher soll eine optimale Kommunikation zwischen Nachwuchs und Leitungsgremium garantiert werden. So wird es den Doktorand/innen in einem frühen Stadium ihrer Karriere ermöglicht, nationale und internationale Kontakte herzustellen und auf der Basis des umfangreichen und internationalen Projekt-Netzwerks eigene individuelle Beziehungsnetzwerke zu anderen Doktorand/innen, Nachwuchswissenschaftler/innen und etablierten Forscher/innen zu knüpfen. Die Postdocs sollen entsprechende karrierefördernde Beziehungen knüpfen und werden auch bei der Ausarbeitung weiterführender Antragstellung finanziell und beratend unterstützt.

Vorgesehen ist, dass die Doktorand/innen und Postdocs zeitliche Abschnitte ihrer Förderungszeit an einem anderen Standort, vorzugsweise bei einem anderen Teilprojekt oder einem/r Kooperationspartner/in im Ausland, verbringen: Zum einen können die Nachwuchswissenschaftler/innen dort Erfahrungen in neuen akademischen Umgebungen sammeln, zum andern soll auch der Wissenstransfer sowohl im Bereich der inhaltlichen Kenntnisse wie auch hinsichtlich des Forschungsstils angeregt werden. Die jüngeren Mitarbeiter/innen erhalten überdies anlässlich der Summer-Schools und Workshops Gelegenheit, Einblick in die wissenschaftliche Organisationstätigkeit zu nehmen und ihre Arbeitsergebnisse einem internationalen und interdisziplinären Fachpublikum zu präsentieren.

Für die Doktorand/innen-Ausbildung sollen auch die bereits bestehenden Strukturen der beteiligten Hochschulen genutzt werden, um eine professionelle berufliche Entwicklung auch neben der fachlichen und interdisziplinären Ausbildung garantieren zu können. Je nach Möglichkeit, Eignung und Bedarf werden sie in die Programme der lokalen Institutionen integriert; in Hannover etwa können die Strukturen der Graduierten-Akademie und der bestehenden Forschungskolloquien genützt werden, in Jena die Strukturen der verschiedenen Graduiertenschulen, Graduiertenkollegs und Doktorandenschulen, an denen die Philosophische Fakultät beteiligt ist. Zudem werden, auf der Basis der bewilligten Einzelprojekte und ihrer Standorte, Knotenpunkte definiert, an denen die Doktorand/innen der in der Nähe ansässigen Projekte zu Arbeitstreffen zusammenkommen, die von den Projektleitern der beteiligten Gruppen betreut werden. In welchem Rhythmus dies geschehen wird, soll in Abstimmung mit den bestehenden Förderungsmöglichkeiten vor Ort entschieden werden; mindestens sollen diese Treffen aber halbjährlich stattfinden.

3. Gleichstellungsmaßnahmen

Die Gleichstellungsmaßnahmen zielen in zwei Richtungen: Zum einen werden Karriereförderungsmaßnahmen für beteiligte Nachwuchswissenschaftlerinnen ergriffen, zum andern wird die Vereinbarkeit von Wissenschaft und Familie gestärkt. Im Bereich der Laufbahn fördernden Maßnahmen soll ein Mentoring-Programm aufgebaut werden, das die Netzwerkstruktur des SPP nutzt, gleichzeitig aber auch die bestehenden Angebote der beteiligten Universitäten einbezieht. Geplant ist ein für die einzelnen Nachwuchswissenschaftlerinnen individuell nutzbares Angebot von persönlichem Coaching und Weiterbildungskursen, die im Besonderen die heikle Phase der Postdoc-Ausbildung unterstützend begleiten soll; gefördert wird auch die Bildung von eigenen Netzwerkstrukturen. Für die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Karriere wird Kinderbetreuung für alle Tagungen eingerichtet, zudem wird eine auf die individuellen Situationen der beteiligten Wissenschaftler/innen zugeschnittene Optimierung der Betreuungssituation durch Finanzierung von Kindertagesstättenplätzen, den Beizug von mobilen Erzieher/innen und die Einrichtung von Heimarbeitsplätzen finanziell unterstützt.

4. Internationale Einbindung und Sichtbarkeit

Das SPP hat die Zusammenarbeit mit einzelnen Forscher/innen und Forschungsgruppen aus der Schweiz, den USA, England, Norwegen und Frankreich vereinbart. Diese Verbindungen sollen es ermöglichen, weitere renommierte Wissenschaftler/innen aus anderen akademischen Kulturen für den Wissensaustausch zu gewinnen. Die hinzuzuziehenden Expert/innen werden wesentlich aus dem Kreis dieser für die Thematik ausgewiesenen Fachleute stammen. Außerdem ist so auch ein internationaler Austausch für Doktorand/innen und Postdocs möglich.

Akademische Sichtbarkeit wird das SPP durch die Jahrestagungen, die Workshop-Aktivitäten, die Publikationen in einer eigenen Buchreihe, das Zwischen- und das Abschlusskolloquium und die damit verbundenen auflagenstarken Heft-Publikationen, die internationale Netzwerkstruktur und den Internet-Auftritt erhalten. Zudem werden die Doktorand/innen und Postdocs dazu ermutigt und dabei unterstützt, ihre Forschungsprojekte auch im europäischen und außereuropäischen Ausland vorzustellen und zu diskutieren. Dazu sollen neben den Kooperationspartnerschaften vor allem auch die bestehenden Institutionen und internationalen Netzwerke der beteiligten Universitäten genutzt werden (z. B. in Hannover das International Office und die Graduiertenakademie).

Besonderen Nachdruck legt das Projekt auf die Vermittlung an eine breitere öffentlichkeit. Das SPP soll auch dazu dienen, neue Formen der öffentlichen und medialen Repräsentation von geistes- und kulturwissenschaftlicher Forschung zu erproben. Die Senior Researcher haben im Rahmen ihrer Koordinationstätigkeit die Aufgabe, diesbezügliche Aktivitäten in Abstimmung mit dem Leitungsgremium zu planen und umzusetzen. Angestrebt werden Ausstellungen, davon eine größere in der Hamburger Kunsthalle und im Deutschen Literaturarchiv in Marbach sowie verschiedene kleinere in Kooperation mit lokalen Institutionen, Zeitungsartikel und -serien sowie Gesprächssendungen in Radio und Fernsehen.

5. Kooperationen

Kooperationen sind mit folgenden Institutionen und Einzelpersonen vereinbart: Hamburger Kunsthalle; Forschergruppe „TEMPUS: pour une étude de la temporalité dans les arts visuels à l’époque moderne“, Prof. Dr. Etienne Jollet, Université de Paris I Panthéon-Sorbonne; SNF- Projekt „Zeiten-Räume“, Universität Neuchâtel; Kultrans Norwegen, Dr. Helge Jordheim, Universität Oslo; Promotionskolleg „Zeitstrukturen des Sozialen“, Universität Jena; Prof. Dr. Dirk Göttsche, University of Nottingham; Prof. Dr. Carol Jacobs, Yale University; Prof. Dr. Laurenz Lütteken, Universität Zürich; Prof. Dr. Marc Roche, Notre Dame University; Prof. Dr. Rafael Rosenberg, Universität Wien; Prof. Dr. Elisabeth Strowick, Johns Hopkins University; Prof. Dr. Paul Ziche, Universiteit Utrecht.

Verbindungen bestehen auch zu einer germanistisch-historischen Forscher/innengruppe der Universität Bielefeld unter der Leitung von Prof Dr. Walter Erhart, die im Rahmen eines Graduiertenkollegs Temporalstrukturen in der Geschichtsschreibung und der Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart untersuchen will Weiter bestehen Kontakte zum Sonderforschungsbereich 647 „Raum – Zeit – Materie. Analytische und Geometrische Strukturen“ an der Humboldt-Universität zu Berlin und zum zu größten Teilen an der Leibniz Universität Hannover angesiedelten Forschungscluster Centre for Quantum Engineering and Space-Time Research. Beide Institutionen bekunden Interesse am Austausch; aus ihren Reihen werden vornehmlich die Teilnehmer/innen des ersten interfakultären Workshops mit den Natur- und Ingenieurswissenschaften kommen.

Weitere wichtige Kooperationspartner sind zahlreiche Emeriti aus verschiedenen Fächern, die ausgewiesene Fachleute auf dem Gebiet sind und teilweise reiche Erfahrung mit Großprojekten aufweisen. Sie werden an den verschiedenen Forschungsaktivitäten teilnehmen und dort vorwiegend als Kommentator/innen ihre Expertise einbringen. Zudem unterstützen sie die Sprecher bei ihren Aufgaben beratend. Diese Gruppe besteht aus: Prof. Dr. Ulrich Barth, Universität Halle, Theologie; Prof. Dr. Heinz Brüggemann, Universität Hannover, Germanistik; Prof. Dr. Werner Busch, FU Berlin, Kunstgeschichte; Prof. Dr. Gottfried Gabriel, Universität Konstanz, Philosophie; Prof. Dr. Otto Gerhard Oexle, MPI für Geschichte Berlin, Geschichte.

Zusammenfassung

In der sozialtheoretischen, sozialphilosophischen und historischen Diskussion gibt es einen Konsens darüber, dass Modernisierung mit einem Wechsel des Raum-Zeit-Regimes einhergeht (Castells 1996–98, Giddens 1990, Harvey 2000, Koselleck 1979/2000, Luhmann 1975, Rosa 2005). Die Grundthese des Schwerpunktprogramms (SPP) ist es, dass diese Veränderung sich nicht nur an den Künsten und Artefakten ‚ablesen‘ lässt, sondern dass sie ganz wesentlich durch nicht-propositional zugängliche Verschiebungen präfiguriert und gebildet wird, die erst dann sichtbar werden, wenn man sie materialiter untersucht. Eben dies will das SPP „Ästhetische Eigenzeiten“ tun und damit das Moderne-Verständnis wesentlich präzisieren und modifizieren. Veränderungen von Zeitlichkeit vollziehen sich, so die forschungsleitende Annahme, zuerst durch Wahrnehmung, Darstellung und Praxis und dringen erst danach in die propositionalen Strukturen. Das SPP nimmt somit eine Revision bestehender Forschungsansichten über Verzeitlichung und Modernisierungsprozesse vor und stellt etablierte Periodisierungen in Frage. Es zeichnet ein Bild der Moderne, das sich über Polychronie und die Figur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen definiert.

Das SPP will in zwei Perioden von drei Jahren die Phänomene ‚Zeit‘ und ‚Zeitlichkeit‘ an ausgesuchten Kunstwerken, Artefakten und Objekten der Moderne analysieren, wobei sich der Untersuchungszeitraum von der Gegenwart bis in die Frühe Neuzeit erstreckt. Es geht davon aus, dass Zeit sich nicht allgemein fassen lässt und dass ihr Erscheinen als geschwindigkeitsbezogene räumliche Bewegung, Distanzüberwindung, Veränderung des Entwicklungszustands von Materie und Lebewesen, Ausdehnung und Kontraktion oder (un)regelmäßige Wiederholung an die merkmalsevidente Verbindung mit konkreten Gegenständen gebunden ist. Den integrativen Bezugspunkt der Forschungen bildet das Konzept der ‚Ästhetischen Eigenzeiten‘, das wahrnehmbar gemachte, irreduzibel idiosynkratische Temporalitätsregime einzelner Objekte oder Subjekt-Objekt-Konstellationen bezeichnet. Ästhetische Eigenzeiten realisieren sich durch ‚Ästhetische Form‘ in der doppelten Semantik des Worts, also durch sinnlich-materielle Erscheinung und aisthetische Darstellung oder, spezifischer, durch künstliche und künstlerische Gestaltungspraktiken. Das Konzept der Ästhetischen Eigenzeit bezieht sich auf die in Artefakten selbst gesetzte, (per)formierte Zeit im Vollzug, zugleich artikuliert es ein auf die allgemeineren gesellschaftlichen, technischen, kunsttheoretischen und wissenschaftlichen Zeitkonzepte reagierendes, sie kommentierendes, reflektierendes und mitgestaltendes historisches Zeitbewusstsein.

Ausgehend von der Erfahrung Ästhetischer Eigenzeiten soll ein Darstellungsbegriff gewonnen werden, in dem Fiktions- und Konstruktionsbewusstsein, Selbstreferenz und materielle Konkretion im Vordergrund stehen. Dieser Darstellungsbegriff dient, zeittheoretisch bestimmt, als Modell für die weiteren Analysen von Kunstwerken, Artefakten und aisthetisch exponierter Dingkultur. Entsprechend wird mit Entschiedenheit der Schritt über die Kunst hinaus in ein interdisziplinäres Feld vollzogen, das auch die zeitlichen Strukturen konkreter Erscheinungsformen in den Sozial- und Naturwissenschaften einbezieht. Dieser interdisziplinäre Zugang erlaubt es, Ästhetische Verfahren in allen kulturbildenden Bereichen als grundlegend für die Geschichte des modernen Zeit-Wissens auszuweisen. Es soll gezeigt werden, dass sich in den immer zugleich poetologisch und epistemologisch wirksamen Darstellungspraktiken künstlerische, wissenschaftliche und technische Moderne treffen und einer von den Expertisen der beteiligten Disziplinen ausgehenden kulturwissenschaftlich-komparativen Analyse zugänglich werden, die in vier thematischen Sektionen (Latenzzeit/Werkzeit/Rezeptionsszeit; Dargestellte Zeit/Formierte Zeit; Chronotope; Chronie/Achronie/Metachronie) vorgenommen wird. Dieser methodische Zugang verspricht damit einen neuen Blick nicht nur auf das Wissen von der Zeit, sondern auch auf die Zeitlichkeit allen Wissens.