Ästhetische Eigenzeiten – Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne

Entangled Island Times. Zu einer Literatur- und Wissens­ge­schichte der Insel­bio­geo­graphie zwischen 1600 und 1850

Roland Borgards (Frankfurt a. M.)

Teilprojekte Phase: 1. 2.

Entangled Island Times. Zu einer Literatur- und Wissens­ge­schichte der Insel­bio­geo­graphie zwischen 1600 und 1850

Das Projekt untersucht, welche unterschiedlichen Zeitformen bei der Erforschung von Inseln zum Tragen kommen. In systematischer Hinsicht interessiert es sich insbesondere für die Spannung zwischen einer Natur-Zeit (mit ihren zwei Varianten einer geologischen Zeit und einer biologischen Zeit) und einer Kultur-Zeit (mit ihren zwei Varianten einer europäisch-abendländischen Zeitvorstellung und einer ethnologisch fremden Zeitvorstellung). Es zielt darauf, diese Zeitmodelle hinsichtlich ihres impliziten Anthropozentrismus zu kritisieren und mit einem am Neumaterialismus orientierten Konzept einer »entangled time« zu konfrontieren.

Auf der Grundlage dieser theoretischen Neubestimmung von materieller Eigenzeitlichkeit konzentriert sich das Projekt in historischer Hinsicht auf die Epoche von 1600 bis 1850, also auf die Jahre vor, während und nach der zeittheoretischen Wende im späten 18. Jahrhundert. In seinem Gegenstandsbereich fokussiert das Projekt tropische und Südseeinseln, für die sich im »first contact« zwischen Europäern und Insulanern besonders scharfe Kontraste hinsichtlich der kulturellen Zeitvorstellungen ergeben. In disziplinärer Hinsicht hat das Projekt sein Zentrum in der Literaturwissenschaft und bedenkt von hier aus das dezidiert Ästhetische einer materiellen Eigenzeit; es integriert aber darüber hinaus konstitutiv ethnographische Fragestellungen sowie die naturwissenschaftlichen Perspektiven der Inselbiogeographie, insbesondere die Tierökologie und die Klimatologie.

Der zu untersuchende Korpus besteht dementsprechend aus literarischen, dokumentarischen, ethnographischen, zoologischen und geographischen Texten zu Inseln aus den Jahren 1600 bis 1850 aus dem europäischen Raum. An ihnen wird zu untersuchen sein, inwiefern sie implizit oder explizit Zeitphänomene verhandeln, inwiefern in ihnen die Spannung zwischen den verschiedenen Zeitformen ausgetragen wird, wo sich verdeckte Spuren einer kulturell-indigenen Eigenzeitlichkeit finden, die sich dem europäischen Zeitregime widersetzt, und wie sich schließlich die verschiedenen Zeitlichkeiten im Zuge der fortschreitenden Globalisierung des Handels und der damit verbunden Vernetzung der Inseln auf eine Weise ineinander verschlingen, dass sich so etwas wie eine Entangled Island Time als historisches Phänomen herausbildet. Gestellt ist damit zugleich die Frage, inwiefern die Insel-Zeiten der kolonisierenden Europäer sich im Zuge der zeittheoretischen Wende des späten 18. Jahrhunderts verändern und wie in umgekehrter Richtung die kolonialen Inselzeiten mit zur Entwicklung unserer modernen Zeitvorstellungen beigetragen haben und welche Rolle in diesem Prozess die ästhetischen Verfahren spielen, die sich in naturkundlichen und ethnographischen Inselbeschreibungen ebenso finden wie in literarisierten Reiseberichten und fiktionalen Inselerzählungen.