Seit jeher spielen Dinge in Gesellschaften eine elementare Rolle. Menschen vergesellschaften sich, indem sie gemeinsam Dinge benutzen, sich um Dinge herum versammeln oder indem sie Dinge als Medien zwischen sich und andere schalten. Vom rudimentären Werkzeuggebrauch in frühen Gesellschaften bis zu den hochkomplexen technischen Infrastrukturen der modernen Weltgesellschaft fungieren Dinge als Schnittstellen des Sozialen. Auch die Erfahrung von Zeit ist konstitutiv an Dinge gekoppelt – von den kleinen Taktgebern des Alltags über die an Dingen ablesbaren Rhythmen der Tage, Monate und Jahre bis hin zum Verfall von organischer Materie und menschlicher Körper. Zeitordnungen sind immer auch gesellschaftliche Ordnungen, als solche aber auch Dingordnungen.
Jedes Mal sind die Dinge dabei keine neutralen Vermittler, sondern prägen die an ihnen gemachten Erfahrungen durch ihre Eigenlogik und Eigenzeitlichkeit mit. Sie besitzen eine ›aisthetische‹ Dimension, sind also Träger einer je spezifischen sinnlichen Erfahrung, die wiederum den Weltzugang der durch sie vermittelten Kollektive, ihre Erfahrungs-, Denk- und Vorstellungsformen entscheidend mitgestaltet. Eine Gesellschaft, die sich um Faustkeil und Speer herum organisiert, produziert nicht nur andere Dinge, sondern auch andere Vorstellungen, andere Erfahrungsräume und andere Zeitordnungen als eine Gesellschaft, die sich um Dampfmaschinen und Fließbänder oder um digitale Objekte auf Bildschirmen herum gruppiert.
In unserem Workshop möchten wir die konstitutive Rolle der Dinge für die Gesellschaft systematisch beleuchten und am Beispiel der Erfahrung von Zeit eingehender untersuchen. Neben allgemeinen sozial-, ding- und zeittheoretischen Ansätzen soll ein Schwerpunkt dabei auf dem Feld der Kunst und der Literatur liegen. Denn hier sind die sinnlichen Dimensionen der Dinge und ihre ›aisthetischen Eigenzeiten‹ nicht nur anzutreffen, sondern werden selbst zum Gegenstand ›ästhetischer‹ (im Sinne von künstlerischer) Gestaltung und reflexiver Problematisierung. So sind Kunst und Literatur nicht erst in modernen Gesellschaften darauf spezialisiert, Dingerfahrungen als Zeiterfahrungen (z. B. Rezeptionsprozesse) bzw. Zeiterfahrungen als Dingerfahrungen (z. B. Chronotope) zu gestalten (vgl. Gell 1986). Kunstwerke visualisieren, verräumlichen, metaphorisieren oder narrativisieren Zeitspannen, Zeitrhythmen oder Dauer in Analogie zu lebens- und sozialweltlichen Zeit- und Dingordnungen. Sie markieren durch ihre aisthetische Eigenzeitlichkeit aber stets auch eine mehr oder weniger ausgeprägte Differenz zu diesen Alltagsordnungen. Das macht sie als Indikator und ›Verstärker‹ für Probleme und Krisen sozialer Zeitregimes interessant, aber auch als Mitakteure und Innovationsmotoren in solchen Zeitregimes.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen möchten wir zwei miteinander zusammenhängende Fragerichtungen eröffnen, die zugleich die beiden Themenschwerpunkte des Workshops bilden sollen.
1) Die erste Fragerichtung ist durch allgemeine, theoretisch-methodische Überlegungen zum Verhältnis von Materialität und Sozialität in der Erfahrung von Zeit motiviert:
- Wie lässt sich das Soziale ›von den Dingen aus‹ denken? Wie kann die konstitutive Bedeutung der Dinge für das Soziale theoretisch genauer bestimmt und in analytisch brauchbare Beschreibungsmodelle gefasst werden?
- Welche Problemlagen und Phänomene von Zeiterfahrung und Zeitlichkeit geraten in den Blick, wenn man das Soziale von den Dingen her denkt und beispielsweise als Netzwerk aus menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren (vgl. Latour 1991, 2007), als Vermittlung (vgl. Debray 2000), Assemblage (vgl. DeLanda 2006) oder entanglement (vgl. Hodder 2014: 20, 24) zwischen Dingen und Menschen begreift?
Während diese Fragestellungen noch selbstverständlich davon ausgehen, dass Zeit in Relation zu Menschen als Trägern von Sozialität, Praxis und Sinneswahrnehmung gedacht werden müsse, bieten u. a. die jüngeren Ansätze einer objektorientierten Ontologie und des New Materialism eine andere, posthumanistische‹ Sichtweise an, in der Menschen nicht mehr als notwendige oder zentrale Referenzpunkte für Ding- und Zeiterfahrungen angesetzt werden. Fragen, die sich daraus ergeben, sind:
- Gibt es eine Ontologie der Zeit, die nicht von menschlichen Betrachtern, wohl aber von Materialität abhängt (vgl. u. a. Meillassoux 2008: 44f.)?
- Gibt es eine Agenzialität oder gar Sozialität der Materie selbst (»agency is about response-ability, about the possibilities of mutual response«; »Matter feels, converses, suffers, desires, yearns and remembers.« – Karen Barad in Tuin 2012: 25, 23)?
2) Die zweite Fragestellung richtet sich auf die konkreten Konfigurationen von Materialität, Sozialität und Zeiterfahrung im Feld von Kunst und Literatur. Wir verstehen diese beiden Begriffe hierbei in einem weiten Sinne, der sich nicht auf Hochkunst und -literatur beschränkt, sondern auch die Erzeugnisse der Populärkultur, die bewusste ästhetische Gestaltung von Gebrauchs- und Konsumobjekten oder gar Werbetexte miteinschließt. Alle diese Erzeugnisse besitzen eine jeweils spezifische Eigenzeit, die sich als Verhältnis von Werk-, Latenz- und Rezeptionszeit, als Verhältnis von dargestellter und formierter Zeit oder als Chronotope beschreiben lassen (vgl. Gamper/Hühn 2014: 42–53). Um wessen Eigenzeit geht es dabei jeweils – diejenige des Dings, des Rezipienten, der Rezeptionsweise, des Künstlers, der Gesellschaft? Zu fragen ist in diesem Zusammenhang insbesondere nach der besonderen ›Zeigekraft‹ von Kunst und Literatur als Gestaltungs- und Reflexionsmedien sinnlicher Erfahrung:
- Geben die konkreten ›aisthetischen‹ Konfigurationen in bestimmten Kunst- und literarischen Werken auch allgemeine Impulse zur Neufassung soziologischer und ästhetischer Kategorien? Erlauben sie, das Verhältnis von Materialität, Sozialität, Zeitlichkeit und sinnlicher Erfahrung auf neue und andere Weise zu denken?
- Wo und wie greifen die Materialität von ästhetischen Artefakten mitsamt ihrer materiellen Dispositive (Medientechnologien, Museen, Bibliotheken etc.), der Produktions- und Rezeptionsakt sowie die Erfahrung von Zeit ineinander? Was könnte beispielsweise eine ›relationale Ästhetik‹ (vgl. Bourriaud 2009) beitragen?
- Wie wird eine so konfigurierte Zeitlichkeit erzeugt und stabilisiert, und wie wird eine auf diese Weise um ästhetische Artefakte herum konfigurierte Sozialität hergestellt und stabilisiert?
- Lassen sich die Anteile von materiellen und sozialen Dimensionen im Rezeptionsvorgang genauer bestimmen?
- Welche Rolle kommt der Sprache – Alltagssprache, wissenschaftliche Metasprache, künstlerische Sprache – bei der Relationierung von Sozialität und Materialität zu?
Für unseren Workshop sind wir an Beiträgen interessiert, die sich mit diesen und/oder ähnlichen Fragen anhand konkreter Fallstudien oder in theoretischen Beiträgen auseinandersetzen. Wir bitten um aussagekräftige Abstracts von ca. 300 bis 500 Wörtern bis zum 30.04.2018 an workshop.zeiterfahrung@gmx.de.
Der Workshop wird vom 25. bis 26. Oktober 2018 in Jena stattfinden und Vorträge mit Diskussionen, eine gemeinsame Textlektüre sowie einen ›sinnlichen Teil‹ umfassen. Ort der Veranstaltung ist die Imaginata, ein »Experimentarium für die Sinne« (www.imaginata.de). Der Workshop ist damit nicht nur als Gespräch über, sondern auch als Erleben von Materialität und Sozialität in der Erfahrung von Zeit gedacht.
Samuel Strehle · 14. Februar 2018, 14:16 Uhr