Ästhetische Eigenzeiten – Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne

Nach der Zeit: Permanenz, Rekursion, Prävention

Reinhold Görling (Düsseldorf), Francesca Raimondi (Düsseldorf), Ludger Schwarte (Düsseldorf)

Teilprojekte Phase: 1. 2.

Nach der Zeit: Permanenz, Rekursion, Prävention

Das Forschungsprojekt geht von der These aus, dass die gesellschaftlichen Veränderungen, die mit dem Begriff der »Kontrollgesellschaft« (Deleuze) verbunden sind, zu einem tiefgreifenden Wandel der Organisation von Zeit geführt haben. Es zielt darauf ab, die Konsequenzen zu beschreiben, die sich dadurch für Wahrnehmungsprozesse, Möglichkeiten des Handelns sowie Techniken und Strategien innerhalb künstlerischer Praktiken ergeben. Leitend ist dabei der Gedanke, dass sich die hier entscheidenden Veränderungen und Konsequenzen mit den Begriffen Permanenz, Rekursion und Prävention beschreiben lassen.

Die zeitlichen Strukturprinzipien von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sowie disziplinäre Taktungen von beispielsweise Anfang und Ende oder von Arbeitszeit und Freizeit treten zunehmend in den Hintergrund: Alles ist permanent verfügbar; Ereignisse treten rekursiv in Serien entlang abgesicherter Bahnen auf. Die Loslösung der Zeit von Bewegung erscheint paradoxerweise als Verlust von Gegenwart (Stillstand), zugleich aber auch als deren umfassende Entgrenzung (Globalisierung). Deleuze zufolge ist die Erfahrung von Zeit in der Kontrollgesellschaft dadurch charakterisiert, dass man nie zu einem Ende zu kommen scheint. Die Zeitlichkeit dieser Gesellschaft wird rekursiv durch Steuerungsmechanismen und Netzwerke organisiert. Die mediale Synchronisierung und Kopplung heterogener zeitlicher Abläufe schafft außerdem ein zeitliches Milieu der Permanenz. Die durch vernetzte Technologien geprägte Umwelt des Menschen bringt schließlich neue Formen der Subjektivität hervor und lässt die Kontrollzeit als präventive Zeitlichkeit erscheinen. Während die Disziplinierung in Einschließungsmilieus wie Schulen, Fabriken oder Kasernen durch Sequenzen diskreter Dauer charakterisiert war, ist Kontrolle weder verortbar noch durch differenzierte Abläufe strukturiert. Kontrolle entgrenzt die Zeit der Subjekte zu einer bruchlosen Dauer und zum Rhythmus eines permanenten Funktionierens.

Das Projekt geht davon aus, dass diese Subjektivierungstechniken in Theater und Performance Art zu neuen Formierungs- und Aufführungsmodalitäten mit subversivem Potenzial führen. Dieses Potenzial soll in der Perspektive einer Ästhetik des Prekären und des Unpersönlichen herausgearbeitet werden. Außerdem sollen einige Werke einer Filmästhetik, für die sich der Name »Slow Cinema« zu etablieren beginnt, genauer untersucht werden. Hier lässt sich beobachten, wie gegen die Narrative und Rhythmen der Bilderzirkulation Zeit als Prozess der Relationalität, der Übersetzung und des Metabolismus in den Blick genommen wird. Schließlich soll auch gezeigt werden, wie die zeitgenössische, post-digitale Kunst die »Zeit nach der Zeit« wahrnehmbar macht und mit ihrer Eigenzeit konfrontiert. Anhand zeit- und technikphilosophischer Reflexionen soll die Möglichkeit einer Ästhetik der Diskontinuität und deren Widerstandspotenzial hinsichtlich des Zeitregimes der Kontrollgesellschaft diskutiert werden. Das Forschungsprojekt setzt sich folglich vor allem das Ziel, die Organisationsformen der Kontrollzeit in soziopolitischer, medientheoretischer und philosophischer Perspektive zu untersuchen und damit ein Instrumentarium zu gewinnen, um neuere Entwicklungen in den zeitbasierten Künsten von Film/Video, Theater/Performance Art und postdigitaler Kunst beschreibbar zu machen.