Université de Neuchâtel, Espace Louis Agassiz 1, 2000 Neuchâtel, Schweiz
5. November 2015, 14:15 Uhr – 7. November 2015, 13:00 Uhr
Die Tagung soll wesentlich zur Bündelung und Weiterentwicklung der Überlegungen beitragen, die von den Organisatoren im laufenden Forschungsprojekt »Dramatische Eigenzeiten des Politischen« – einem Teilprojekt des DFG-Schwerpunktprogramms »Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne« – formuliert worden sind.
Wie Reinhart Koselleck in Kritik und Krise kritisch und Jürgen Habermas in Strukturwandel der Öffentlichkeit affirmativ herausgearbeitet haben, spielt das Theater bei der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit in der Aufklärung eine zentrale Rolle. Was sie allerdings in ihren viel rezipierten Arbeiten von 1954/59 bzw. 1962 nicht oder nur am Rande in den Blick genommen haben, ist der theatrale Aspekt repräsentativer Öffentlichkeit. Vom absolutistischen Herrscher, der schon von Thomas Hobbes als »persona« im Sinne der Theatermaske beschrieben wurde, bis zur revolutionären Festversammlung, die im Zeichen des Theateraufzugs stand, gibt es verschiedene politische Phänomene, deren theatrale Dimension nicht zu übersehen ist. So konnte in den vergangenen Jahren gezeigt werden, wie die Theoretiker einer vertragsrechtlichen Begründung von Gesellschaft die Staatsgründung als repräsentatives Staats-Theater entwarfen, was dann bei Rousseau dazu führte, dass er die kulturelle Institution des Theaters als defizitäre und zerstörerische Verdopplung eines politischen Geschehens ablehnte. Weiter wurde darauf hingewiesen, dass sich in diesen Argumenten eine dramatische Konfrontation von Gesetz und Geschichte in Szene setzte und komplexe Zeitkonstruktionen einer uneinholbaren Vorzeitigkeit impliziert waren (Vogl 2002, 19–35). Vor allem aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive, welche die imaginären Anteile an politischen Prozessen und Institutionen betont, ist zudem wiederholt auf die Bedeutung des Theaters und theatraler Arrangements für die Installierung und Legitimierung von politischen Verfahren, Personen und Institutionen hingewiesen worden (Frank u.a. 2002). Und an Beispielen des deutsch- und französischsprachigen Dramas des 17. Jahrhunderts, der Theaterstücke Schillers und ausgewählter Tragödien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde erläutert, wie gründlich die Dramatik die staatspolitischen Debatten der Zeit aufnahm und in fiktiven Szenarien deren neuralgische Punkte figurativ auslotete und reflektierte (Vogel 2002), wobei räumliche Paradigmen den analytischen Zugang dominierten und zeitliche Faktoren vor allem im Zusammenhang mit genealogischen Fragen in den Blickpunkt gerieten (Koschorke u.a. 2007).
Was bisher allerdings noch weitgehend fehlt, sind Untersuchungen zu einer Dramaturgie der Zeit, welche die neueren Ansätze theater- und literaturwissenschaftlicher Forschung und die kulturwissenschaftliche Frage nach den theatralen Strukturen gesellschaftlicher Kommunikation systematisch verbinden. Auch eine Fokussierung auf die zeitlichen Dimensionen des Politischen, im Besonderen hinsichtlich dessen ritueller und imaginärer Strukturen, fehlt, und die paradigmatische Bedeutung verschiedener temporaler Quantitäten und Qualitäten für die epistemologischen und poetologischen Dimensionen des Politischen sowie für die reflexiven und ästhetischen Qualitäten des Dramas wurde bisher nicht erschlossen.
Das Drama ist als zentrales Studienobjekt für die Frage nach der Dimension der (Eigen-)Zeit deshalb besonders relevant, weil es zum einen ein ästhetisches Konstrukt mit starken gattungsgeschichtlichen formalen Vorgaben bezüglich der zeitlichen Funktionen und Dimensionen ist, gleichzeitig aber eine hohe Sensibilität für Veränderungen in der gesellschaftlichen Sphäre aufweist; dies gilt insbesondere seit der Neufunktionalisierung von Kunst und Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Das Drama fungierte nun nicht mehr als Mittel der Repräsentation im Dienste der Staatsmacht oder als didaktisches Mittel des Rhetorikunterrichts, sondern war verstärkt auf die Stellungnahme zur Gegenwart und die Öffnung zukünftiger Möglichkeitsräume hin orientiert. Dabei nimmt es eine signifikante diskursgeschichtliche Position in der Geschichte des Politischen ein: Aufgrund seiner symbolischen Aufladung in der Tradition der Tragödie als Drama von Staatssachen und hohen Personen und hinsichtlich seiner medialen Anlage ist es für Aspekte des Politischen, also auch für dessen Zeit-Raum-Ökonomien, ein besonders komplexes Darstellungsmittel. Jedes Drama weist eine je spezifisch ausgeprägte, eigene zeiträumliche Dimension auf, die Spannungen vielfältiger Art erzeugt: eine Spannung zwischen in der Vergangenheit liegendem Stoff und der Situation in der Gegenwart der Abfassung, zwischen der Vergangenheit der Abfassung und der Gegenwart der Aufführung sowie den Zukünften, die mit dem Wechsel des Bezugs von Vergangenheit und Zukunft durch die Aktualisierung des Dramas in Aufführung und Lektüre wiederum die Horizonte wechseln.