Forschungskolleg Humanwissenschaften, Am Wingertsberg 4, 61348 Bad Homburg vor der Höhe
2. März 2020, 13:00 Uhr – 3. März 2020, 15:30 Uhr
Der Workshop soll sich mit dem Phänomen des apokalyptischen Denkens von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart an exemplarischen Texten und Kunstwerken aus Philosophie, Literatur, Theologie, Kunstgeschichte, Film beschäftigen und in diesem Zusammenhang insbesondere die Figuren und Figurationen im apokalyptischen Szenario in Bezug auf die bzw. ihre Eigenzeitlichkeit in den Blick nehmen.
Die Grundidee der Veranstaltung lässt sich so zusammenfassen, dass in den verschiedenen Varianten des apokalyptischen Denkens eine besondere Form von Eigenzeitlichkeit zum Ausdruck kommt, die den Zeitraum vom jeweiligen ›Jetzt‹ bis zum jeweiligen Zeitenende (bisweilen auch darüber hinaus) konfiguriert. In diesem Zusammenhang ist Zeit bzw. Eigenzeit jedoch nicht einfach gegeben, sondern wird, so die Ausgangsüberlegung, von den jeweiligen Figuren transportiert bzw. überhaupt erst hergestellt.
Grundsätzlich ist in diesem Zusammenhang zwischen einem im engeren Sinne apokalyptischen und einem chiliastischen Zeitmodell zu unterscheiden (hierzu Bergengruen 2007; 2015; 2017). Apokalyptisch i.e.S. argumentiert z. B. Martin Luther, wenn er schreibt, dass das Reich des Papstes („Papae regnum“) durch die Reformation zu Ende ginge, während der eschatologische Durchbruch des Wortes („verbum Dei in mundo“) seinen Anfang nähme (Luther 1908, 626). Luther geht bekanntlich von einer apokalyptisch beschleunigten Endzeit aus, die aber keine tausendjährige Gottesherrschaft auf Erden kennt, sondern vielmehr ein Ende der Welt, dessen Aufschub jedoch im Sinne der tertullianischen Bitte „pro mora finis“ (Tert. apol. 39,2) trotz der apokalyptischen Beschleunigung erhofft wird (Blumenberg 1988, S. 61f.; 53f.).
Davon ist ein – auf Offb 20,1-6 beruhendes – chiliastisches Modell (hierzu Kehl 1996, S. 168-170) zu unterscheiden, also ein Modell einer tausendjährigen Gottesherrschaft auf Erden, wie es z. B. Quirinus Kuhlmann entwirft, der in seinem Kühlpsalter davon ausgeht, dass „Von nun an […] di Kaiser den Kühlmännern, di Virreiche der Kühlmonarchi“ weichen werden (Kuhlmann 1971, S. 102). Dieses Modell arbeitet mit der Vorstellung einer Zeit nach der Zeit, was es, wie im Falle Kuhlmanns, möglich macht, das Ende der (ersten) Zeit möglichst schnell herbeizusehnen und zu -schreiben.
Die Arbeitshypothese, auf der die Tagung aufsetzt, besagt nun, dass in beiden Varianten des eschatologischen Denkens die Zeit, in der die Menschen bis zu diesem Ende leben, von diesem jeweiligen Ende her gedacht wird. Ein besonderes Augenmerk soll in diesem Zusammenhang auf die Dynamik von Be- und Entschleunigung gerichtet werden. Hier spielt die oben genannte tertullianische Vorstellung vom Aufschub im Rahmen eines sich immer mehr beschleunigenden Zeitendes eine genauso wichtige Rolle wie die Figur des Katechon (2 Thess 2,6f.). Dieser Aufhalter bzw. dieses Aufhaltende („κατέχον“ [V. 6] bzw. „κατέχων“ [V. 7]) lässt sich bekanntlich dreifach interpretieren (Strobel 1961, S. 106; Trilling 1988, S. 92- 101; Motschenbacher 2000, S. 191-193): theozentrisch (Gott als Aufhalter im Sinne einer Parousieverzögerung), politisch (der Staat als stabilisierende politischer Aufhalter; dieser Position hängt beispielsweise noch Carl Schmitt an [z. B. Schmitt 1950, S. 29]) und dämonisch (der Teufel/Antichrist als böswilliger Aufhalter des Zeitenendes).
In jeder der drei Interpretationsmöglichkeiten treten nun eine Reihe von Figuren - Figuren im Sinne von Eder (Eder 2008, 322-425 u. 541-553) – auf den Plan: der schreibende (bzw. malende etc.) Apokalyptiker, Gott, der Souverän und der Teufel/Antichrist (sofern man diese Gleichsetzung mit Offb 20,1f. vornehmen möchte; zu diesem Problem Bousset 1895, S. 14; 18 u. ö.; Cohn 1998, S. 32), je nach Auswahl in verschiedenen Positionen. Diese Figuren sind wiederum auf die weiteren, menschlichen, göttlichen und tierischen Figurationen bezogen, die im apokalyptischen Szenario ›auftreten‹: das Lamm, das Tier mit den zehn Hörnern und sieben Köpfen, der Drache, die Hure Babylon, die sieben Engel etc. Eine besondere Aufmerksamkeit soll in diesem Zusammenhang die Gleichsetzung von Teufel/Antichrist mit den apokalyptischen Tieren erfahren, wie sie in literarischen Texten, Werken der Bildenden Kunst und auch im Film häufig zu finden sind. Wie werden Tiere in diesen Kunstformen jeweils zu Repräsentanten, Medien und/oder Agenten der Apokalypse? Was hat es in diesem Zusammenhang z.B. mit dem – gleichfalls bemerkenswert tierlastigen – Genre der ›Postapokalyptischen Science Fiction‹ (z.B. Planet of the Apes, After Earth, Abschaffung der Arten) auf sich?
Diese Figuren und Figurationen sollen nun auf der Tagung in Bezug auf das (eigen-)zeitliche Modell befragt werden, das sie transportieren: Stehen sie für Beschleunigung und/oder Entschleunigung? Aktivieren sie ein Zeitmodell, das mit einem Ende der Zeit, mit oder ohne Aufschub, rechnet oder baut ihr Zeitmodell auf einer Zeit nach der Zeit, also der 1000- jährigen Gottesherrschaft, auf? Wie verändert sich das Zeitmodell in der Interaktion? Treffen in der Konfrontation der Figuren auch verschiedene Zeitmodelle aufeinander? Wie aktivieren die verschiedenen Kunstformen (Literatur, Film, Bildende Kunst) ihre je eigenen ästhetischen Verfahren, um die Eigenzeitlichkeit dieser apokalyptischen Figurationen zu aktivieren, zu forcieren oder zu reflektieren? All das dies wird vor dem Hintergrund der Frage zu diskutieren sein, ob sich diese menschlichen wie tierischen Figuren in eine (eigen-)zeitliche Dynamik einfügen und/oder diese, sei es für sich, sei es für andere, aktiv gestalten.
Beteiligte Disziplinen: Literaturwissenschaft, Philosophie, Religionsgeschichte, Kunstgeschichte, Filmwissenschaft.
Literatur
Bergengruen, Maximilian: „›Himlische[s] beginen‹, ›trefliche[r] vortgang‹. Rompler von Löwenhalt über die Urszene deutscher Poesie und die ›zeit […]/ darinn wir leben‹“, in: IASL 42 (2017), S. 135-149
Bergengruen, Maximilian: „Elias Artista oder Das Überflüssigwerden des Wissens in Kuhlmanns ›Kühlpsalter‹“, in: Antonia Eder, Jill Bühler (Hrsg.): Das unnütze Wissen in der Literatur, Freiburg i. Brsg. 2015, S. 63-84
Bergengruen, Maximilian: Nachfolge Christi/Nachahmung der Natur. Himmlische und natürliche Magie bei Paracelsus, im Paracelsismus und in der Barockliteratur (Scheffler, Zesen, Grimmelshausen), Hamburg 2007
Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1988
Bousset, Wilhelm: Der Antichrist in der Überlieferung des Judentums, des neuen Testaments und der alten Kirche. Ein Beitrag zur Auslegung der Apocalypse, Göttingen 1895
Cohn, Norman: Die Sehnsucht nach dem Millennium. Apokalyptiker, Chiliasten und Propheten im Mittelalter, Freiburg i. Br. 1998
Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg 2008
Kuhlmann, Quirinus: Der Kühlpsalter, hrsg. v. Robert L. Baere, Bd. II, Tübingen 1971
Kehl, Medard: Eschatologie, Würzburg 1996
Luther, Martin: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Bd. XVIII, Weimar 1908
Motschenbacher, Alfons: Katechon oder Großinquisitor? Eine Studie zu Inhalt und Struktur der politischen Theologie Carl Schmitts, Marburg 2000
Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950
Strobel, August: Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem, Leiden, Köln 1961
Trilling, Wolfgang: Der zweite Brief an die Thessalonicher, Düsseldorf 1982